„Worte für das Unsagbare – Kaleb Erdmanns mutige Annäherung an Erfurt 2002“!

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lilsin32 Avatar

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Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule ist keine leichte Lektüre – und soll es auch nicht sein. Ausgangspunkt ist der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im Jahr 2002, den der Erzähler als Elfjähriger aus nächster Nähe miterlebt. Die Szenen der Evakuierung, das irritierende Schweigen der Erwachsenen in den Wochen danach und die Unsicherheit, wie mit einer solchen Tat umzugehen ist, bilden den Grundton. Mehr als zwanzig Jahre später bricht die Erinnerung unvermittelt wieder auf und treibt den Erzähler in eine obsessive Auseinandersetzung, die schließlich in ein Romanprojekt mündet.

Erdmann stellt sich den heiklen Fragen frontal: Darf man so viele Jahre später „alte Wunden“ erneut öffnen? Gehören die Erinnerungen überhaupt ihm allein? Welche Details sind wirklich passiert – und welche hat er sich durch ständiges Wiedererzählen längst zurechtgesponnen? Dieses Nachdenken über die eigene Erinnerung und das Recht, darüber zu schreiben, macht das Buch zu einem Stück radikaler Autofiktion.

Dabei gelingt ihm ein doppelter Spagat: Einerseits richtet sich der Blick kritisch auf ein Publikum, das von der Aufarbeitung von Gewalttaten oft auch eine Art voyeuristische Befriedigung sucht. Andererseits hinterfragt der Erzähler unbarmherzig seine eigene Motivation.

Der Stil ist präzise, wechselnd zwischen sachlich-nüchtern und poetisch-intensiv, oft mit bitterem Humor durchsetzt. So entsteht ein Text, der zutiefst persönlich ist, gleichzeitig aber universelle Fragen zu Erinnerung, Erzählrecht und kollektiver Traumatisierung aufwirft.

Caroline Wahl fasst es treffend zusammen: „Das Traurigste, Lustigste und Beste, was ich seit langem gelesen habe.Erdmann gelingt das Kunststück, für das Unsagbare Worte zu finden – und die Lesenden am Ende sprachlos zurückzulassen.

Fazit: Ein verstörend gutes Buch, das sich nicht in gefällige Antworten flüchtet, sondern die Unruhe aushält. Lesenswert für alle, die sich für die Verbindung von Literatur, Erinnerungskultur und ethischen Fragen des des Erzählens interessieren.