Ein leiser Roman mit Tiefgang

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charleen Avatar

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„Die Bibliothek meines Großvaters“ erzählt die berührende Geschichte von Kaede, einer jungen Lehrerin aus Tokio, die eines Tages in einem gebrauchten Buch auf geheimnisvolle Zeitungsausschnitte stößt. Sofort denkt sie an ihren demenzkranken Großvater, der trotz seiner Krankheit eine außergewöhnliche Kombinationsgabe und ein beeindruckendes Wissen über klassische Kriminalliteratur besitzt. Gemeinsam begeben sich die beiden auf die Spur kleiner und größerer Rätsel, die Kaede in ihrem Alltag begegnen. Mit Fantasie, Verstand und Herz lösen sie diese Fälle. Doch bald wird ihre besondere Verbindung von einer dunklen Bedrohung überschattet.

Masateru Konishis Roman ist weit mehr als eine Kriminalgeschichte: Es ist eine Hommage an die Kraft von Büchern, an zwischenmenschliche Beziehungen und an die Fähigkeit, auch im Alter und trotz Krankheit geistig brillant zu bleiben. Besonders faszinierend fand ich die Beziehung zwischen Kaede und ihrem Großvater. Schon in ihrer Kindheit hat er sie spielerisch dazu ermutigt, aus wenigen Fakten oder kurzen Beobachtungen eine ganze Geschichte zu entwickeln. Diese kreative Ader und ihre gemeinsame Liebe zu Kriminalfällen durchziehen den gesamten Roman wie ein roter Faden.
Im Laufe des Buches wird Kaede immer wieder mit scheinbar alltäglichen, aber raffiniert aufgebauten Kriminalfällen konfrontiert, die sie gemeinsam mit ihrem Großvater löst. Dabei ist besonders hervorzuheben, wie Konishi die Figur des Großvaters darstellt: Trotz seiner fortschreitenden Demenz bleibt er ein genialer, hochintelligenter Charakter, dessen Geistesblitze und analytische Fähigkeiten immer wieder aufleuchten. Gerade diese Kontraste zwischen Vergessen und Erinnern, zwischen Verwirrung und Klarheit, verleihen dem Roman Tiefe und Emotionalität.

Was dieses Buch von anderen Werken über Demenz abhebt, ist seine Vielschichtigkeit im Umgang mit der Krankheit. Neben den bekannten Symptomen zeigt Konishi auch weniger häufig thematisierte Aspekte wie Halluzinationen, gleichzeitig aber auch die vielen lichten, fast magischen Momente, in denen die Krankheit in den Hintergrund tritt. Diese Perspektive hat mich sehr berührt. Sie ist realistisch, ohne trostlos zu sein, und zugleich voller Respekt und Würde.

Ein weiterer Pluspunkt ist der dezente, aber spürbare Einfluss der japanischen Kultur. Sei es in den Beschreibungen von Alltagssituationen, in der respektvollen Beziehung zwischen den Generationen oder im Umgang mit Krankheit. Die japanische Prägung gibt dem Buch eine eigene Atmosphäre, die mir sehr gefallen hat.

Strukturell ist der Roman eher ungewöhnlich aufgebaut. Zunächst wirkt es, als würden verschiedene kleine Geschichten oder Fälle nebeneinanderstehen. Erst gegen Ende fügt sich alles zusammen und enthüllt ein größeres, zusammenhängendes Verbrechen. Diese Auflösung ist clever und rundet das Buch schön ab. Auch wenn der Weg dorthin für meinen Geschmack etwas zu gradlinig war.

Denn trotz der liebevollen Gestaltung der Charaktere und des schönen Schreibstils konnte mich der Roman emotional nicht vollkommen fesseln. Es fehlte mir an Sogwirkung. Oft las ich nur ein paar Seiten, bevor ich das Buch wieder zur Seite legte. Der Spannungsbogen bleibt recht flach, die Handlung schreitet ziemlich linear voran, was das Leseerlebnis zwar ruhig und angenehm, aber eben auch wenig fesselnd macht. Aus diesem Grund vergebe ich 3,5 von 5 Sternen.