ein nachhallendes Buch voller Emotionen

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Schon das Cover des Erstlingswerks von Virginia Evans fällt sofort ins Auge: ein wunderschön gezeichnetes, farbiges Aquarell-Stillleben, das den Blick aus einem Fenster auf einen See zeigt. Eine besonders charmante Idee: In meinem Leseexemplar lag in einem Kuvert ein persönlicher Brief der Autorin – eine liebevolle Geste, die ich sowohl von ihr als auch vom Verlag sehr geschätzt habe.

Dieser Roman oder diese Geschichte wird ausschließlich in Briefen und teilweise auch in nicht abgeschickten Briefen an ein – wie die Hauptprotagonistin schreibt – „Pferdchen“ erzählt.
Da es sich hierbei um Briefe an die verschiedensten Personen handelt, hat die Autorin gut daran getan, am Ende des 383 Seiten starken Buches ein Personenverzeichnis „mitzuliefern“. Dies war mir bei der Lektüre eine wertvolle Hilfe.

Die „Briefeschreiberin“ ist Sybil van Antwerp, die zu Beginn der Handlung im Jahr 2012 bereits 73 Jahre alt ist: eine ehemalige Starjuristin, Gartenliebhaberin, Ex-Ehefrau, Mutter, Freundin – und Adoptivtochter.
Seit jeher hat sie eine Leidenschaft für das Schreiben von Briefen. Fast täglich greift sie zum Füller und – ganz wichtig – zum Briefpapier, um mit wunderbarem Witz, aber auch mit schonungsloser, manchmal ruppiger und dennoch treffsicherer Wortgewandtheit aufzuschreiben, was sie stört, bewegt, begeistert oder auch tief betrübt.

Schon früh im Roman erfahren wir aus ihren Briefen, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leidet; sie wird in nächster Zukunft unweigerlich erblinden. Sybil hat Angst vor dem Blindsein und befindet sich in einem Gefühl der Auslöschung. Dies wird von der Autorin ebenso eindringlich wie feinfühlig beschrieben.
Was es mit dem ominösen Pferdchen auf sich hat, enthüllt sich erst im Laufe der Briefwechsel.

Besonders bewegt hat mich auf Seite 45 der Vergleich des Menschenlebens mit den Jahreszeiten – eine poetische, nachdenkliche und zugleich interessante andere Sichtweise. Ebenso beeindruckend fand ich auf Seite 69 die Erklärung, was einen „Briefeschreiber“ ausmacht, und den dazugehörigen Gegensatz zu Gesprächen und spontanen Äußerungen. Beides hat mir noch einmal bewusst gemacht, wie viel bewusster und reflektierter das geschriebene Wort oft ist – und wie sehr es die Essenz eines Moments einfangen kann.

Ich durfte Sybils Leben von 2012 bis November 2021 begleiten: Ich habe mit ihr gelitten, war empört und ängstlich, aber auch fröhlich, beglückt und gespannt dabei.
Zu ihrem engsten Umfeld gehören: Daan, der kranke Exmann; Fiona, die entfremdete Tochter, zu der sie kein gutes Verhältnis aufbauen konnte und mit der sie nur selten Kontakt hat. Fiona hat Probleme, Kinder zu bekommen – was Sybil jedoch noch nicht weiß. Felix, ihr ebenfalls adoptierter Bruder, lebt in Frankreich. Hinzu kommen zwei Verehrer – Nachbar Theodore und Mick, der ihr verblüffenderweise einen Heiratsantrag macht; Basar Mansour, ein hilfsbereiter Mitarbeiter im Kundenservice einer Internetfirma, mit dem sich aus einer reinen Serviceanfrage eine unerwartet tiefgründige Brieffreundschaft entwickelt; der hochintelligente Teenager-Sohn ihres Freundes und ehemaligen Kollegen Harry; Rosalie, Jugendfreundin und Schwägerin, die eine Art Mutterersatz für ihre Tochter Fiona ist; und ein anonymer Briefeschreiber, der sie bedroht.

Natürlich treten noch weitere interessante Personen auf, denen Sybil schreibt und die mich beim Lesen in einen Sog aus Einsamkeit, Nähe, Geheimnissen, der Suche nach Versöhnung und Selbstreflexion gezogen haben.

Virginia Evans’ Die Briefeschreiberin ist ein feinfühliger, kluger Briefroman, der durch seine unkonventionelle Erzählform besticht. Im Zentrum steht Sybil van Antwerp, eine 73‑jährige Juristin im Ruhestand, die ihr Leben – mal mit Humor, mal mit schonungsloser Offenheit – in Briefen reflektiert. Sie schreibt an Freunde, entfernte Bekannte und sogar an prominente Persönlichkeiten. Die Briefe sind weit mehr als bloße Nachrichten – sie sind Spiegel einer Persönlichkeit, die sich im Spätherbst ihres Lebens noch einmal neu erfindet.

Evans gelingt es meisterhaft, zwischen Leichtigkeit und Tiefgang zu balancieren: pointierte Beobachtungen, unterschwellige Melancholie und berührende Momente gehen Hand in Hand. Besonders eindrucksvoll ist, wie die Autorin Sybils Wandel glaubwürdig und unaufgeregt inszeniert – ohne Kitsch, dafür mit Wärme und psychologischem Feingefühl.
Sie vermeidet es, die Briefform durch zu viele Hintergrundinfos zu überfrachten. Stattdessen lernt man Sybil über die vielfältigen Briefwechsel kennen und erkennt ihre sture, intelligente, aber warmherzige Persönlichkeit im Laufe der Zeit.

Fazit:
Die Briefeschreiberin ist ein literarisches Kleinod für alle, die Briefromane lieben und Figuren schätzen, die noch im hohen Alter bereit sind, sich zu verändern. Ein warmherziger, intelligenter Lebensroman einer starken Frau, der lange nachklingt – und Lust macht, selbst wieder Briefe zu schreiben.