Tanz in die Realität

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marapaya Avatar

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Manchmal träume ich davon, in der Zeit von Jane Austen und Co geboren zu sein und statt in Großraumdisco auf festliche Bälle in atemberaubenden Roben tanzen gehen zu können. Dann fällt mir ziemlich schnell ein, dass ich nicht mal Walzer tanzen kann, eine schlechte Koordinierung habe, was Schrittfolgen angeht und Smalltalk unfähig bin, sobald ich jemanden gut finde. Ich wäre also die alternde Jungfer, die noch zu Hause bei den Eltern lebt und irgendwann nur noch vom Seitenrand den Tanzenden zuschauen wird. Dann lieber im Hier und Jetzt leben, selbstbestimmt eigenes Geld verdienen und mit Freunden tanzen gehen, ohne dass bestimmte Schrittfolgen vorausgesetzt werden. In Krystal Marquis Roman zu den Davenports habe ich ein paar Ansätze meines modernen Lebens bereits erkennen können. Die gehobene Gesellschaft ist immer noch recht steif, aber Chicago ist eben nicht London und die Etikette zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerfranst an den Rändern. Fortschritt und Industrialisierung treiben die Welt voran, sie dreht sich scheinbar schneller und mit ihr viele Ideen und Entwicklungen, die auch die Gesellschaft verändern wird. Die Geschwister Davenports haben alle drei ein gutes Gespür für diese Entwicklungen und beginnen ihr eigenes Leben und die Erwartungen, die an ihre Person geknüpft sind, in Frage zu stellen.
Mich hat dieser Roman und seine Perspektive ungemein beeindruckt. Der Text kommt ganz beschwingt und unterhaltsam daher, aber es ist soviel Zündstoff in ihm verbaut, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen wollte. Krystal Marquis führt mir vor Augen, wie eindimensional ich über die Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten Bescheid weiß. Sklaverei, Freiheitskampf, Rassenkampf, Black Lives Matter – wenig Raum für Zwischentöne. Wissen geprägt von den westlichen, weißen Medien. Aus der Ferne, dem alten Europa, dem Land der Wissenschaftler und Entdecker und Sklavenhändler.
Marquis Roman erzählt eine vermeintlich altbekannte Geschichte, eben jene, die auch Jane Austen mehrfach ausgeführt hat. Gehobene Gesellschaft und klar verteilte Rollen – die Schwestern Olivia und Helen müssen einen gutsituierten Ehemann finden und Sohn John vorrangig in eine gute Ausbildung investieren, um den Betrieb des Vaters zu übernehmen. Der Vater hat sich seine Stellung und sein Vermögen hart erarbeitet, ist der Sklaverei entflohen und will eigentlich nur das Beste für seine Kinder. Doch wenn viel Schein und Sein im Spiel ist, liegen die Karten selten offen auf dem Tisch. Olivias Freundin Ruby wird quasi von den Eltern gezwungen, sich John zu angeln. Der wiederum hat nur Augen für das Dienstmädchen Amy-Rose, mit der er und seine Schwestern aufgewachsen sind und versteht nicht, warum es für Amy-Rose so wichtig ist, ein eigenes, wirtschaftlich unabhängiges Leben aufzubauen. Olivia wird von einem charmanten Engländer umworben und beginnt sich unter dem Einfluss eines jungen Anwaltes jedoch zunehmend für die gesellschaftlichen und politischen Probleme der Schwarzen zu interessieren. Während ihr Schwester eigentlich am liebsten in der Werkstatt an den neuen Automobilen herumschrauben und zusammen mit John den Vater davon überzeugen will, dass hier die Zukunft der Firma liegt. Junge, inspirierte, schlaue Menschen, die sich mit den für sie vorgefertigten Wegen nicht arrangieren können und wollen. Krystal Marquis behält die junge Perspektive fast durchgängig bei, die Elterngeneration erscheint einem fast seltsam distanziert, kalt, unbelehrbar und berechnend. So wie es auf die Heranwachsenden wirken muss in ihrer dem Alter bedingten egozentrischen Sicht. Nur an wenigen Stellen lässt sie durchblicken, was die Eltern zum Teil haben durchleben müssen. Hier hätte ich mir manchmal ein wenig mehr gewünscht, allein aus eigenem Interesse. Aber letztlich ist das Erwachsen werden genau von diesen Unkenntnissen geprägt und die Autorin hat am Ende einige Geschichten offen gelassen, so dass ich die kleine Hoffnung habe, dass es noch einen Nachfolgeband geben könnte.