Absolut mitreißend!

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fraedherike Avatar

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"Diese Kontinuität erschien Alex nahezu unmöglich: Die Vorstellung, der Faden sei immer derselbe, die Welt bliebe statisch. Wäre es erdrückend, strafend, oder war es der Grund, weshalb all diese Leute eine so merkwürdige Gewissheit an den Tag legten bei der Frage, wer sie waren, eine Gewissheit, dass ihr Identität einen Kontext hatte? ... Der Bogen eines Lebens war vorherbestimmt, seine Grenzen schon sichtbar. Das hier war etwas anderes." (S. 220)

Ihr Kopf ist noch immer betäubt von den Schmerzmitteln, die sie genommen hat. Um Abstand zu gewinnen. Um diese Stimme in ihr, die sagt, dass er sie finden und bestrafen wird für das, was sie getan hat, klein zu halten. Alex hat viel gelernt in den letzten zwei Jahren, die sie als Escort Girl arbeitet: Menschen zu lesen, ihnen das zu geben, wonach sie verlangen, ihre Fassade zum Einsturz zu bringen. All der Reichtum, diese Reinheit, die ans Perverse grenzte, in der Leid keinen Platz zu haben scheint; sie sind ihr zuwider und doch genießt sie die Unbeschwertheit, die sie mit sich bringen. Sie hatte viel aufs Spiel gesetzt – und verloren.

"Es tat gut, jemand anders zu sein. Zu glauben, und sei es nur einen halben Moment lang, die Geschichte sei anders. Alex hatte sich ausgemalt, was für eine Person Simon gefallen würde, und das war die Person, die Alex ihm vorgab zu sein. Alex' ganze abgeschmackte Vergangenheit wurde herausgelöst, bis es sogar ihr selbst allmählich so vorkam, als wäre nichts davon je passiert." (S. 26)

Sie war gerade aus ihrer WG geschmissen worden, hatte die letzten Monatsmieten nicht bezahlt, als sie Simon in einer Bar kennenlernt. Ein flüchtiger Blick, eine kurze Unterhaltung; Alex weiß, welche Rolle sie spielen muss, um ihn sich ihr gefügig zu machen. Sie verbringen lange Tage in seinem Sommerhaus in den Hamptons, doch die Gesellschaft der Reichen und Schönen langweilt sie: ihre Vorhersehbarkeit, leere Seelen, die sich selbst am liebsten reden hörten und nicht außerhalb des Erwartbaren bewegten. Bei einem Dinner begeht sie einen schwerwiegenden Fauxpas und Simon schmeißt sie aus seinem Haus. Ihr ganzes Hab und Gut in einer Strandtasche treibt sie die Nachbarschaft, schläft am Strand, an einem Busbahnhof, bis sie auf eine Gruppe Jugendlicher trifft, die eine Strandparty veranstalten. Sie wird eine von ihnen, indem sie blinde Flecken mit den richtigen Worten Farbe gibt; es ist eine Masquerade der scheinbaren Sorglosigkeit und des Reichtums und sie die ewige Gästin, die hinter die Masken blickt und ihre Spuren hinterlässt. Sie hat nur ein Ziel.

"Alex merkte, wie er sich entspannte, wie seine leichte Irritation überging in benommenes Wohlgefallen, die Bereitschaft, mitzuspielen bei der Idee, sie könnten sich von irgendwoher kennen. So geschah es jedes Mal; Alex, die sich weit genug aufdrängte, damit die Leute aufmerkten, damit sie nervös wurden. Es war einfach, diese Nervosität in Adrenalin, Interesse, Nachgiebigkeit zu verwandeln." (S. 88)
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Sie ist wie eines der Rehe in den Hamptons, von denen keiner weiß, wie sie auf ihr Grundstück gekommen sind; eine Wanze in einer scheinbar perfekten Welt, in der das Schicksal sie nicht vorgesehen hat; die Antiheldin, abhängig von Tabletten und der Güte ihrer Sugar Daddys. Emma Cline hat mit Alex eine Protagonistin geschaffen, die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Dabei ist sie eigentlich diejenige, die für ihre Taten – Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung – belangt werden sollte. Es ist diese feine Beobachtungsgabe Clines, der klare Blick auf die Gesellschaft, die Reichen und Schönen, die im System zuoberst stehen, der eine so bittersüße Umkehr von Gut und Böse bewirkt und Alex ihrer Rolle als „Bad Girl“ entheben – teilweise zumindest. Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat, aber sie sieht keinen anderen Weg, sind es ihre Obsession zu Simon und ihre Angst vor ihrem Ex-Freund Dom, die ihre Spirale der Verwüstung weiter vorantreiben.
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"Sie kannte Leute wie Jack, Kinder der Reichen oder Berühmten, deren Persönlichkeit verzerrt war durch eine falsche Realität. Kein Mensch reagierte jemals aufrichtig auf sie, kein Mensch gab ihnen sinnvolles soziales Feedback, also hatten sie nie ein vernünftiges Selbstbild kultiviert.“ (S. 201)
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Clines Stil besticht durch den szenenhaften, atmosphärischen Ton, ihre präzisen und demaskierenden Beschreibungen der Rich Kids und alten weißen Männer sowie die grandiose Charakterzeichnung ihrer Protagonistin Alex. Durch bewusst gesetzte blinde Flecken, etwa in Bezug zu Alex und ihre Vergangenheit, öffnet sie Räume, in denen die Geschichte wächst, diese und jene Wege nehmen kann, doch, egal welche Fantasien man spinnt, es bleibt dieses ungute Gefühl, eine Vorahnung, dass das nicht mehr lange gut gehen kann. Ein Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen mag. Große Empfehlung!
Aus dem Englischen von Monika Baark