Im Schatten der Fassaden des Wohlstands

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bücherhexle Avatar

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Die attraktive 22-jährige Alex arbeitet seit einiger Zeit als Escort Girl. In dieser Branche muss man sich perfekt auf seinen jeweiligen Auftraggeber einstellen sowie seine Wünsche und Bedürfnisse im Voraus erahnen, um erfolgreich zu sein. Entsprechend hat Alex eine beeindruckende Beobachtungsgabe. Sie kann schon kleinste Bewegungen in Gestik und Mimik deuten, um adäquat darauf zu reagieren. Ein Dauerlächeln umkreist ihr Gesicht. Ein Lächeln freilich, das nicht immer die Augen erreicht, aber auf solche Feinheiten kommt es bei ihrem Gegenüber nicht an. Alex spielt eine Rolle und die spielt sie gut. Ihr unbändiger Wunsch, mit den Schönen und Reichen in ihrer Kundschaft mithalten zu können, hat sie unehrlich werden lassen. Sie schnorrt, lügt, unterschlägt und stiehlt, was nicht niet- und nagelfest ist. Meist hat das außer verlorenen Freundschaften keine Konsequenzen, aber mit Einsamkeit kann Alex gut umgehen. Einzig Dom macht ihr Sorgen, ein Typ aus der Halbwelt New Yorks, der hinter ihr her ist, um sie zur Rechenschaft zu ziehen – wofür bleibt lange im Unklaren, unschuldig scheint Alex aber nicht zu sein, denn sie hält ihn telefonisch immer wieder hin, will ihn unbedingt aus ihrem neuen Leben fernhalten.

Ihr neues Leben, das ist Simon, ein mindestens doppelt so alter, wohlhabender Kunsthändler, der sie in sein Anwesen in die Hamptons mitgenommen hat, einer Gegend, in der die New Yorker ihre Sommer verbringen und die nicht auf Kontinuität ausgelegt ist. Dort leben Alex und Simon zusammen. Er sitzt im Büro, sie geht zum Schwimmen an den Strand oder pflegt den Müßiggang. Luxus pur, teure Lokale, schicke Geschenke – so könnte es für immer weitergehen… Doch Alex macht einen einschneidenden Fehler, als sie auf einer Party die Etikette verletzt. Simon setzt sie mit aller Konsequenz vor die Tür und Alex hat keine Ahnung, wo sie hinsoll. Gebetsmühlenartig redet sie sich ein, nur ein paar Tage überbrücken zu müssen, bis Simons große Feier anlässlich des Labor Day stattfindet. Dort will sie ungeladen erscheinen und ist überzeugt, dass er sie freudig wieder in die Arme schließen wird.

Während dieser Woche der Obdachlosigkeit begleiten wir Alex auf Schritt und Tritt. Die personale Erzählperspektive lässt den Leser tief in ihre Gedankenwelt blicken, so dass er sich (im Gegensatz zu den Opfern) über ihren manipulativen, berechnenden Charakter völlig im Klaren ist. „So geschah es jedes Mal; Alex, die sich weit genug aufdrängte, damit die Leute aufmerkten, damit sie nervös wurden. Es war einfach, diese Nervosität in Adrenalin, Interesse, Nachgiebigkeit zu verwandeln.“ (S. 88) Alex versteht es zu flirten, zu animieren und zu reizen, Grenzen setzt sie sich dabei nicht. Allerdings lassen die Mengen an Alkohol, Tabletten und Drogen vermuten, dass sie sich selbst nur im Rausch ertragen kann, einem Rausch, der sie aus der Realität trägt, ihr eine geisterhafte Existenz verleiht, der Erinnerungslücken gräbt und einer Flucht gleich kommt.

Man kann keine Sympathien zu Alex hegen. Sie ist eine wahre Anti-Heldin. Wo sie geht, hinterlässt sie eine Schneise der Verwüstung. Sie benutzt gutmütige, hilfsbereite Menschen, scheut nicht, diese mit ihren Machenschaften in Bredouille zu bringen. So wechselt sie wie ein Hans im Glück die Aufenthalts- und Schlafplätze. Ihre neuen Bekanntschaften sind teilweise mindestens ebenso bedürftig wie sie, doch darauf kann sie keine Rücksicht nehmen. Zwischendrin funkeln auch Momente schonungsloser Erkenntnis in ihr auf oder so etwas wie Reue – allerdings nie nachhaltig und ohne Konsequenzen. Zu tief ist Alex bereits ins Milieu verstrickt, bürgerlichen Werten hat sie sich entfremdet. Einzig im Element Wasser spürt sie etwas Existentielles, dort tankt sie ihre Lebensgeister wieder auf.

Emma Cline beschreibt Alex´ Erlebnisse in einer absolut präzisen, fesselnden Sprache, die sowohl das dekadente Umfeld der Superreichen beschreibt wie auch die Sphäre der wohlstandsverwahrlosten jungen Leute in deren Dunstkreis, denen sich Alex anschließt. Man bekommt ein Gefühl von Atmosphäre und Stimmung. Wir sehen diese Welt mit den Augen von Alex, die ihren Blick auf die Details und Widersprüchlichkeiten legt, aber immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Sie kann sich bis zur Unkenntlichkeit anpassen, eine echte Identität sucht man vergebens, zumal wir nur wenig über ihre Vergangenheit erfahren. Doch auch ohne Sympathie folgt man Alex und ihren überheblichen Gedanken und empathielosen Taten gebannt. Man verurteilt, bleibt aber neugierig. Dass das gelingt, schreibe ich der Schreibkunst der Autorin zu.

Man kann den Roman als Sozialkritik verstehen, denn die Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist in den Staaten noch augenfälliger als hierzulande. In meinen Augen steckt aber mehr dahinter. Hier wird das Psychogramm einer verlorenen Seele geschildert, die so gerne dazu gehören möchte und dafür bereit ist, alles zu tun und aufzugeben. Die subtile Spannung wird konsequent gehalten, obwohl man wenig über die Protagonistin erfährt. Man lebt mit ihr überwiegend im Hier und Jetzt. Das ist ungeheuer geschickt gemacht. Der Stil ist ansprechend, keinesfalls plakativ, hin und wieder finden sich auch wiederkehrende literarische Symbole. Dialoge wirken authentisch. Der Text lädt zum Nachdenken ein, hat durchaus Tiefgang, auch wenn er an sich leicht verständlich daherkommt. Bestimmt kann man trefflich über den Roman diskutieren. Das Ende wurde aus meiner Sicht genial konzipiert und lässt Interpretationsspielraum offen.

Emma Cline ist ein bemerkenswerter Roman gelungen, der mich ebenso begeistert hat wie ihr letzter Roman „The Girls“ (2016). Auch an der Übersetzung von Monika Baark habe nichts auszusetzen. Wer sich auf eine unübliche Anti-Heldin einlassen will und keine Pretty-Woman-Geschichte erwartet, dem möchte ich diesen faszinierenden Pageturner ans Herz legen.