Die Magie der Sprache in Höchstform

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alsterschwan Avatar

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Die Gefühle des Adam Riese aus Platteoog...

Nein, in Anja Baumheiers Roman „Die Erfindung der Sprache“ geht es nicht um Adam Ries (deutscher Rechenmeister, 15./16. Jahrhundert, lt. Wikipedia), sondern um Adam Riese, ein echter Ostfriese, der in der Gegenwart des Buches Doktor der Sprachtheorie und angewandten Sprechwissenschaft ist.
Anja Baumheier konnte mich schon mit ihrem Roman „Kastanienjahre“ begeistern und auch dieses Buch hat mir außerordentlich gut gefallen – wobei ich gestehen muss: es ist ein Buch, dass mich durch die „Magie der Sprache“ in seinen Bann gezogen hat, Die Autorin hat es geschafft, mit Worten und Bildern meisterhaft zu jonglieren, ich sah förmlich die Worte wie kleine Bälle durch die Luft fliegen – und sie hat sie alle perfekt aufgefangen! Ich habe mittlerweile so viele farbige Post-Its bei den m.E. besten Formulierungen geklebt, dass es schon bunt wirkt...
Das Buch spielt lange Zeit in zwei Zeitebenen, zum einen: der 32-jährige Adam, der als Dozent für Sprachwissenschaften an einer Berliner Universität arbeitet und sehr autistische Züge hat - menschliche Beziehungen kann er kaum eingehen, dafür liebt er die Zahl sieben, er schreibt mit Begeisterung Listen, am liebsten mit sieben Punkten, er besitzt nur graue Kleidung (oh nein, nicht einfach nur grau, sondern: einsteingrau, „schiefergrau, seidengrau, telegrau, zementgrau, staubgrau, aschgrau“- S.22). Er stürzt in das Abenteuer seines Lebens - besser wohl: er wird gestürzt – um seinen Vater zu suchen, der von der Insel Platteoog spurlos verschwand, als Adam 13 Jahre alt war. Seine Mutter, eine Radiomoderatorin, hat seitdem kein Wort mehr gesprochen. Nicht gerade hilfreich bei diesem Beruf! Es tauchen neue Erkenntnisse auf, dass sein Vater noch leben könnte, deshalb muss unverzüglich gehandelt werden…
In der zweiten Zeitschiene erfahren wir die Vorgeschichte von Adam: wie sich seine Großeltern Ubbo und Leska kennengelernt haben, wie deren heißgeliebte Tochter Oda auf Adams Vater Hubert Riese trifft, Adams Geburt und sein Heranwachsen auf Platteoog mit seinen ca. 200 Einwohnern – einige lernen wir näher kennen (und lieben): Bonna, die Polizistin, Alfried, der Herausgeber des „Platteooger Diekwieser“ (ein Wochenblatt) und Helge, der Inselarzt – und Martha, Adams Freundin seit Kleinkindertagen. Zola aus Göttingen, die Ähnlichkeit mit „Lisbeth Salander aus der Verfilmung von Stieg Larsson“ hat, unterstützt Adam bei den ersten Abschnitten seines Abenteuers oder besser: ohne sie hätte es wohl gar nicht erst stattgefunden…
Die Menschen sind alle sehr lebendig beschrieben, auch ihre kleinen „Macken“ werden liebe- und respektvoll dargestellt. Eigentlich möchte man sofort mit ihnen befreundet sein…
Ein heißer Tipp noch von mir: man sollte dieses Buch auch keinen Fall hungrig lesen: Großmutter Leska ist eine begnadete Köchin und Bäckerin, kaum ein Ereignis dieses Buches findet ohne Leskas Koch- und Backkunstwerke statt, z.B. nach Adams Geburt hatte Leska „eine neue Gastronomiekühltruhe gekauft und buk und kochte und weckte und fror ein, als gelte es, bis zu Adams Volljährigkeit Essensvorräte bereitzustellen.“ (S. 129) Und immer und überall hat sie eine Plastikdose dabei, gefüllt mit Köstlichkeiten!
Verheimlichen möchte ich aber auch nicht, dass ich ca. im dritten Viertel etwas „geschwächelt“ habe, die z.T. ausufernden Landschafts-, Wolken- und Situationsbeschreibungen – so schön ich sie fand – ermüdeten mich auf Dauer etwas, aber das ist wirklich Jammern auf sehr hohem Niveau, hier wäre vielleicht etwas weniger mehr gewesen… Aber das war im letzten Viertel wieder vergessen, da war ich auf das Ende gespannt! Und ich wurde positiv überrascht, mit dem Schluss hatte ich nicht gerechnet… Aber es war alles stimmig und so konnte ich das Buch sehr zufrieden zuklappen.
Ein hervorragender Roman, für den ich eine absolute Leseempfehlung aussprechen kann – und unbedingt möchte!