Wenn man sich neu erfinden muss

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
elke seifried Avatar

Von

Anja Baumheier hat mich schon mit Kastanienjahre und auch Kranichland mehr als gelungen unterhalten, die Kurzbeschreibung zu diesem Roman sowie die Leseprobe haben mich sofort angesprochen und deshalb waren meine Erwartungen mehr als groß.

„Ein Speed-Dating. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Die Idee war nicht seine gewesen, sondern die seiner Großmutter Leska. Adamčik, ist gute Idee. Habe ich in Platteooger Diekwieser Werbung gesehen. Ist alles mit Sieben: Frauen, Minuten, du wirst mögen. Finde doch Frau, hatte sie am Telefon gesagt.“ War die Suche nach einer Frau für Adam gerade eben noch Großmutter Leskas Hauptanliegen, ändert sich das schnell, als ihre Tochter und Adams Mutter in eine tiefe Sprachlosigkeit verfällt, weil sie im zufällig entdeckten Roman Die Erfindung der Sprache glaubt einen Hinweis auf Hubert, ihren geliebten Ehemann, der vor vielen Jahren spurlos verschwunden ist, gefunden zu haben. Adam, dem Reisen mindestens genauso verhasst ist und ihn zudem verunsichert, wie zwischenmenschliche Kommunikation, muss sich nun auf die Suche begeben. Er beginnt eine Reise, bei der er viele Hürden nehmen und Gipfel überwinden muss.

Die Autorin erzählt ihre herzergreifende Geschichte in zwei Zeitebenen. Zum einen wird man in die Vergangenheit versetzt, erfährt wie sich Adams Großeltern seine Eltern kennengelernt haben, wie er zur Welt kam, die ganze Insel mit Elternschaft übernahm, wie behütet er aufwuchs, welch ein Sonderling er war und wie schließlich kurz nach seinem 13. Geburtstag sein Vater spurlos verschwunden und seine Mutter in eine tiefe Sprachlosigkeit verfiel. Im Heute geht man mit Adam auf die Suche nach seinem Vater und darf erleben, wie aus dem verunsicherten Mann, der am liebsten mit seiner Sprachassistentin kommuniziert einer wird, der über sich hinauswächst.

Adam mit seinen Eigenheiten hat sich sehr schnell in mein Herz geschlichen und es gab zahlreiche berührende Szenen. Klar war für mich auch spannend zu erfahren, wird er seinen Vater finden? Ganz besonders das hat mich auch am Ball gehalten, als sich bei mir gegen Ende des zweiten Drittels doch eine deutliche Länge eingestellt hat. „…umfangreicher Kegelrobbenkörper, der in einer sehr, sehr engen nagellackroten Polyesterbluse steckte, bebte. Rot ging. Zwar war das auch grell, aber weniger grell als Gelb. Dennoch. Adam hatte den Eindruck, der Kegelrumpf der Lachenden würde nur von dem Blusenstoff zusammengehalten, als könnte er jeden Augenblick reißen und die gesamte Frau davonfließen. Allein vier Knöpfe hielten sie zusammen.“ Die Autorin beschreibt mit so vielen Bildern, so vielen originellen Vergleichen, dass das Kopfkino zwangsläufig in Gang kommen muss. Zu großen Teilen fand ich diese Beschreibungen toll, musste schmunzeln, wenn die Autorin nachdem sie über viele Zeilen hinweg den Wechsel der Jahreszeiten mehr als ausgiebig beschreibt, um dann hinterher zu schieben, „Für Adam spielte der Lauf der Jahreszeiten und das, was da unter den Wolken wuchs, blühte, reifte und verging, eine Nebenrolle. Eine sehr, sehr kleine Nebenrolle.“, allerdings war es mir phasenweise auch fast ein wenig zu viel. Die Erfindung der Sprache ist auch im Ausdruck Programm. Die Autorin spielt mit Sprache und bedient sich zahlreicher Wortneuschöpfungen wie „blumige Deckendaunenhaftigkeit“ oder „Sesselhoffnungsgrün“. Gut hat mir gefallen, dass ich auch viel schmunzeln durfte, wofür vor allem Großmutter Leska, aber auch solch trocken, nüchterne Äußerungen Adams wie „Da sind Sie die Erste, die mir das sagt, aber mit der Farbe Ihrer Bluse bin ich einverstanden. Was mir an Körpergröße fehlt, haben Sie an Umfang, meiner Einschätzung nach. Ich tippe, Ihr BMI liegt bereits bei Grad drei, also irgendwo zwischen dreißig und kleiner fünfunddreißig. Vielleicht haben Sie sich gefragt, was das Akronym BMI eigentlich bedeutet?“ gesorgt haben. Eine Warnung vielleicht noch, hungrig sollte man besser nicht lesen, denn Leskas größte Leidenschaft ist, alle zu bekochen. „Vor den Besuchern bog sich der Tisch unter den Mengen an kaltem Braten, Krabben-Powidltascherln, Dünenkrustenbrötchen, Mohnkolatschen, Marmeladen-Liwanzen und Dalken mit Schlagsahne,…“ Nicht nur einmal hatte ich beim Lesen einen wässrigen Mund.

Erwähnenswert finde ich auch noch den kleinen geschichtlichen Exkurs, den man ganz nebenbei geboten bekommt. „Der Extratag des Schaltjahres neunzehnhundertachtundachtzig hatte begonnen. Die Athleten der fünfzehnten Olympischen Winterspiele in Calgary, medaillenbehangen oder nicht, waren gerade auf dem Rückweg in ihre siebenundfünfzig Herkunftsländer. Die sporterfolgsverwöhnten Athleten der UdSSR und der DDR reisten außerordentlich medaillenbehangen Richtung…“ oder „neunzehnhundertzweiundsechzig. Das war das Jahr der Kubakrise, der schweren Nordseesturmflut, das Gründungsjahr der Rolling Stones, das Jahr des Beginns der Spiegelaffäre. Noch kein Mensch hatte damals offiziell oder inoffiziell den Mond betreten.“, sind nur zwei Beispiele, dafür, wie die Autorin ihre Erzählstrang in der Vergangenheit mit bedeutenden Ereignissen der Zeit unterfüttert.

Froh bin ich, dass ich dieses Buch als ebook gelesen habe, und auf meinem Reader ein Wörterbuch installiert ist und es eine direkte Leitung zu Wikepedia gibt, denn viele Fachbegriffe hätten mich sonst oft im Duden blättern oder im Internet surfen lassen. Aber immerhin weiß ich jetzt z.B. was unter giacomettischlank, Onomatopoetikum, Sanguiniker, Pleonasmus und unter weiteren Wörtern, die sich nicht in meinem aktiven Wortschatz befinden, zu verstehen ist. Gut, weil sie Authentizität verleihen, gefallen mir auch immer Einschübe in einer fremden Sprache, so machen die böhmischen Brocken z.B. Adams Großmutter richtig aus. Allerdings wurden mir die Fußnoten, die diese Phrasen übersetzen und die sich im Verlauf der Geschichte, auch durch die Reise, durch die zusätzlich auch noch andere Sprachen dazukommen, fast zu viel. Da gilt für mich, ebenfalls wie bei den ausufernden Beschreibungen wäre eine kleine Prise weniger, mehr gewesen.

Die Autorin stattet ihre Darsteller allesamt mit äußerst viel Profil, ganz besonderen Eigenheiten, liebenswerten Schrullen und Problemen aus und zudem lässt sie sie sich auch authentisch entwickeln. Die Figurenzeichnung ist wirklich grandios, ganz besonders natürlich bei Adam, der regelrecht über sich hinauswächst. Aber auch all die anderen Mitspieler, bei einer Leska, mit ihrem ganz besonderem Charme angefangen, über eine Zoe, die Adam mitreißt, aber auch von ihm Hilfe bekommt, bis hin zur kleinen Nebenrolle eines DR. Helge Janssen, der für die Familie sogar Fortbildungen besucht.

Alles in allem reicht es trotz der an sich herzergreifenden Geschichte bei mir nicht mehr ganz für 5 Sterne. Dafür waren mir die Längen dann doch zu viel. Aber vier sind auf jeden Fall drin.