Unterhaltsame Mischung aus Fakten und Fiktion

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REZENSION – Wohl jeder kennt das Anfang des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinci gemalte Porträt der „Mona Lisa“ mit ihrem vieldeutigen Lächeln. Kunstkenner wissen zudem, dass dieses Gemälde im August 1911 vom italienischen Handwerker Vincenzo Peruggia (1881-1925) aus dem Pariser Louvre gestohlen und von ihm erst im Dezember 1913 in Florenz dem Direktor der Uffizien ausgehändigt wurde. Aber hatte es Peruggia wirklich die ganze Zeit nur bei sich versteckt gehabt? Ist das seitdem wieder im Louvre zu besichtigende Gemälde tatsächlich das echte oder doch nur eine perfekte Kopie von Pablo Picasso?
Diesen Fragen geht Schriftsteller Tom Hillenbrand (51) in seinem im September beim Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Roman „Die Erfindung des Lächens“ nach. Zum Glück kennt niemand die genaue Antwort, was dem Autor ausreichend Gelegenheit gibt, auf 500 Seiten nach Herzenslust in einer unterhaltsamen Mischung zwischen Fakten und Fiktion zu schwelgen. Erleichtert wird ihm dies durch die Tatsache, dass der Raub der „Mona Lisa“ in Paris gegen Ende der Belle Époque stattfand – jener Zeit, in der sich in Paris, dem Zentrum der europäischen Welt, Lebenskünstler und bildende Künstler aller Länder in Künstlercafés auf dem Montmartre und der Opéra Garnier oder zu dekadenten Grandes Fêtes im Bois de Boulogne und in absinthgetränkten Spelunken an der Place Pigalle trafen.
Diese wilde Zeit – „Normale Menschen sind langweilig. Verrückte hingegen haben immer etwas Sympathisches.“ – lässt Hillenbrand, den wir seit 2011 eher als Autor preisgekrönter Krimis um den Luxemburger Starkoch Xavier Kieffer oder ebenfalls prämierter dystopischer Science-Fiction-Romane wie zuletzt „Montecrypto“ (2021) kennen, nun in einem historischen Roman auf spannend zu lesende und zugleich amüsante Weise aufleben, während er uns die Spur der verschwundenen „Mona Lisa“ verfolgen lässt, die – zuvor im Louvre als nur eines unter vielen anderen Renaissance-Gemälden – tatsächlich erst durch ihr Verschwinden im Jahr 1911 weltbekannt wurde.
Auch in Hillenbrands Roman stiehlt der Italiener Vincenco Peruggia das Gemälde aus dem damals nur nachlässig bewachten Louvre. Commissaire Juhel Lenoir bekommt den Auftrag, die „Mona Lisa“ wiederzufinden. Im Rahmen seiner Ermittlungen lernen wir den 30-jährigen Maler Pablo Picasso (1881-1973) während seiner kubistischen Phase und dessen aus Rom stammenden Freund Guillaume Apollinaire (1880-1918) kennen, wortgewaltiger Dichter und Kunstkritiker italienisch-polnischer Abstammung. Zeitweilig wurden tatsächlich auch diese beiden des Gemälde-Diebstahls verdächtigt. Gleichzeitig treibt in Paris die anarchistische Bonnot-Bande ihr kriminelles Unwesen, benannt nach ihrem Anführer Jules Bonnot (1876-1912), die nicht nur Banken ausraubt, sondern auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckt. Man muss zwangsläufig einen Vergleich mit der organisierte Kriminalität unserer Tage ziehen, die, technisch auf höchstem Niveau ausgestattet, der Polizei immer weit voraus scheint, wenn man bei Hillenbrand liest: „Wieder hatten sich die Ganster eine Filiale der Société Générale ausgesucht, wieder flohen sie mit dem Auto. … Zwei Gendarmen nahmen die Verfolgung auf – einer auf dem Fahrrad, der andere auf dem Pferd.“ Im weiten Dunstkreis dieser Anarchisten bewegt sich unbewusst auch die amerikanische Isadora Duncan (1877-1927), die dem britischen Okkultisten und Satanisten Aleister Crowley (1875-1947) verfallen ist. Alle kommen sie bei Hillenbrand irgendwann in den zeitweiligen Besitz des gestohlenen Gemäldes.
Es macht nicht nur Spaß, den in lockerem Tonfall geschriebenen Roman „Die Erfindung des Lächelns“ als unterhaltsamen Krimi zu lesen und gleichzeitig viel über jene politisch, künstlerisch und gesellschaftlich turbulente Epoche in Paris voller Aufbruchstimmung in das neue, temporeiche Zeitalter unserer Moderne zu erfahren. Spaß macht es auch zu spüren, dass wohl selbst der Autor seine Freude am Schreiben gehabt zu haben scheint. „Alles in diesem Buch ist genau so passiert, abgesehen von den Dingen, die ich mir ausgedacht habe. …. Welche? Das müssen Sie schon selbst herausfinden“, schreibt er in seinem Nachwort. „Wenigstens Sie wissen nun ja, wie sich die Sache wirklich zugetragen hat“, will er uns weismachen. Doch tatsächlich kennt nur die „Mona Lisa“ die wahre Geschichte dieser zwei Jahre ab 1911. Ist es vielleicht ein wissendes Lächeln, das sie uns seit 1913 wieder im Louvre zeigt. Für uns gilt deshalb: „Wichtig ist nur die Legende, die durch das Bild geschaffen wird, nicht das Bild selbst.“ Aber lesen sollte man Hillenbrands Mischung aus gut recherchierten Fakten und phantasiereicher Fiktion dennoch unbedingt – und sei es auch nur zur besten Unterhaltung.