Mensch neben der Spur

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
lenaliestzuviel Avatar

Von

Manchmal wird mensch aus der Bahn geworfen und steht dann vor den Scherben seines bisherigen Lebens. Viel schlimmer ist aber, wenn da gar keine Scherben sind - wenn alles perfekt scheint und nicht zu erkennen ist, warum es auf einmal nicht mehr funktioniert. So geht es Elke. Nach ihrem Theologiestudium und drei Jahren in der Seelsorge verliert sie auf einmal ihre Verbindung zu Gott (bzw. zur kirchlichen Tradition) und muss gegen eine innere Sperre ankämpfen, die ihr jegliche Erinnerung an diese Dinge verhindert. Elke ist nicht allein, als sie aus der Bahn geworfen wird - aber irgendwie schon, denn so richtig nachvollziehen kann ihre Probleme niemand. Schritt für Schritt muss sie lernen, mit dieser neuen Realität zu leben und steigt langsam dahinter, warum ausgerechnet sie an "Gottdemenz" leiden könnte.

Tamar Noort hat sich für ihre Debüt definitiv ein interessantes Thema ausgesucht. Eines, das man nicht häufig auf dem Buchmarkt findet. Wer liest schon ein Buch über arbeitslose Theologen? In meinem Fall eben diese. Insofern war das Buch für mich auch aus einem anderen Aspekt interessant: Wie geht Elke mit den Fragen um, die auch viele andere beschäftigten? Welche Lösungen findet sie? Wie gehen andere mit ihr um?

Mit den Charakteren des Romans bin ich zugegebenermaßen nur schwer warm geworden. Elke wirkt häufig eher wie ein launisches Kleinkind. An manchen Stellen erinnert ihr Verhalten an das einer dementen Personen und man hat Mitleid mit ihr. Man wartet jeden Moment darauf, dass ein Erwachsener den Raum betritt und das Kind oder die alte Dame tröstet, aber stattdessen begegnet sie anderen Kindern, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um auf andere schauen zu können: ihr aalglatt geschriebener Freund, ihre um sich selbst kreiselnden Eltern... Man wünscht es sich anders, wünscht sich eine idealisierte Erzählung, aber gerade in diesen Charakteren, die alle irgendwie abschreckend sind, ist Noorts Roman schmerzlich realistisch. Auch die Dynamiken zwischen den Charakteren schließen sich diesem Trend an - Fehlkommunikationen, unausgesprochene Beziehungskrisen, die keiner so wirklich wahr nimmt... Wie eines dieser zwischenmenschlichen Probleme am Ende gelöst wurde, ganz gegen das Klischee vieler anderer Romane, fand ich allerdings richtig gut! Die sonst sehr statischen Figuren gewinnen hier dann doch etwas an Dimension.

Während manche Bücher durch ihre Geschichte überzeugen, ist es hier die Sprache, die einen mitnimmt. Noorts relativ abrupter Erzählstil passt zu Elkes innerer Welt und ihre Darstellung einiger dunklerer Szenen hat mich tatsächlich zum Weinen gebracht. Ihre Formulierungen sind voll von Anspielungen auf Liturgie, Kirchenlied und Bibeltexte und somit für Leute aus der "Glaubenswelt" sehr unterhaltsam zu Lesen. (Ob das gleiche allerdings auch für Leute außerhalb der Szene greift?)

Das von der sprachlichen Gewandtheit ausstrahlende Licht überstrahlt und überdeckt viel, aber nicht alles. Der Plot wirkte auf mich etwas stückhaft und es verging viel Zeit (sowohl gelesene als auch in der Geschichte) ohne wirkliche Entwicklung - was für den Leser z.T. frustrierend sein kann, letztendlich aber vermutlich Elkes Lebensrealität widerspiegeln soll. Elkes Kampf mit dem Glauben kommt recht unklar rüber (man kann seiner Entwicklung nicht ganz glauben), die Gottesdemenz wird bruchstückhaft, bevor Elke es überhaupt bemerkt und als Theologin fragt man sich, warum Elke diese Fragen erst jetzt kommen. (Normalerweise tauchen Fragen, die mit dem Glauben verbunden sind, während des Studiums auf und wer es darüber hinaus geschafft hat, weiß, ob er glaubt/glauben will oder nicht. Elke scheint hier - aus meiner Sicht ziemlich unrealistisch - vollkommen unverändert durchs Studium gegangen zu sein. Für das plötzliche Kopfstehen ihrer Welt fehlen auf der anderen Seite jegliche Trigger, kurz: Der Startpunkt der Geschichte wirkt vollkommen unlogisch.)

Während das Cover gut zum Titel passt, habe ich mich mit dem Passen des Titels (und des Covers) zur Geschichte schwergetan. Sicherlich findet sich die Phrase am Ende der Geschichte, aber letztendlich haben die beiden wenig miteinander zu tun. Ich kann erahnen, warum dieser Titel gewählt wurde und wohin die Geschichte entsprechend eigentlich gehen sollte (eine Auseinandersetzung mit dem Tod, ein lebendiges Todfühlen von Elke etc etc), aber faktisch kommt das leider nicht rüber.

Wem würde ich also diesen Roman empfehlen? Lesern, die nicht nach einer perfekten Geschichte suchen. Die sich vom Leben durchgerüttelt fühlen und für die es eine Freude ist zu sehen: Sie sind nicht allein. Und schließlich empfiehlt die Sprache das Buch für "kulturelle Christen" - für Menschen, die in kirchlichen/christlichen Kreisen aufgewachsen sind (oder in deren Nähe) und sich an den vielen kleinen Wortspielen freuen können.
Sprachlich/literarisch ist dieses Buch sicherlich vier Sterne wert - nur die Geschichte lässt mich nun einen weiteren Stern abziehen.