Unsympathische Protagonistin, umwerfender Schreibstil

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angie99 Avatar

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"Mein Vater war Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde. Ich hatte schon als Kind auf der Kanzel gespielt, von der er eines Tages verkünden würde, wer ihm nachfolgen sollte. Dass ich das sein könnte, wünschten meine Eltern sich schon lange. (…) „Ich muss erst den Kopf frei kriegen“, sagte ich, „bevor ich gleich eine ganze Gemeinde übernehme.“ Mein Vater nickte etwas heftiger als nötig, dem Sekt geschuldet oder der Erleichterung, dass er nicht sofort in Rente gehen musste. „Du sagst Bescheid, wenn du so weit bist.“ Ich nickte, aber das war jetzt ein Jahr her, und mein Kopf war immer noch nicht frei. Und jetzt war der Schöpfer des Himmels und der Erden mir zuvorgekommen und hatte die Arbeit für mich erledigt. Gott hatte den Platz geräumt…" (S. 10)

Als bei Elke, 30 Jahre, abgeschlossenes Theologiestudium, liiert, eine selbstdiagnostizierte Gottdemenz eintritt und sie ihren Job im Altersheim verliert, scheint ihr sowieso schon wackeliges Leben ihr vollständig zu entgleiten...
Sie legt immer merkwürdigere Verhaltensweisen an den Tag, fährt zu ihren Eltern in den Norden, hilft beim Aufräumen der Wohnung der alten Nachbarin, kehrt mit Papagei nach Köln zurück, schließt sich einer Truppe Steilwand-Motorradfahrer an und zieht schließlich eine Spur beziehungstechnischer Verwüstung hinter sich her, die sie wieder zurück in ihre alte Heimat zwingt.

Es ist nicht nur eine Suche nach Gott, die Tamar Noort in ihrem Romandebüt bildreich abhandelt, sondern ein junges Leben, das ziel- und haltlos umherwankt. Auch die Lesenden werden dabei so unbarmherzig zwischen den Launen der Protagonistin hin- und hergeworfen, dass ein bisschen Übelkeit durchaus dazugehört. Ich jedenfalls war spätestens in der Mitte des Buches von der egozentrischen und luxusverweichlichten Art Elkes so brutal genervt, dass ich sie nur noch ungerne weiter begleitet habe.

Dem über weite Strecken unspektakulär dahintröpfelnden Plot und einer eher unbequem-unsympathischen Hauptfigur setzt die Autorin jedoch eine wunderbare Sprache entgegen. Diese ist klar, flüssig, authentisch und wird stets von einem ironischen Unterton getragen, so dass es immer wieder auch Momente zum Schmunzeln gibt. "Aus Hoch Bodo wurde Hoch Christof. Das Gewitter blieb aus, das Land schwitzte weiter unter anderem Namen, und ich blieb liegen." (S. 52) Außerdem sorgen scharfe Beobachtungen für eine tragende Symbolkraft. "Er machte das Deckenlicht an, und das Tier wirkte wie angeknipst, es surrte auf das Licht zu, als gäbe es eine unsichtbare Schnur zwischen ihm und der Lampe. (…) Langsam zehrte sie sich auf, sie verbrannte, aber sie wurde nicht leiser, sie wurde lauter. Sie strengte sich immer mehr an, als müsste sie sich einfach mehr Mühe geben, damit sie noch näher herankäme an die Quelle des Lichts. Die Hornisse versuchte, das Licht zu umarmen, und dann wurde es still." (S. 45)

Trotz der kirchlichen Thematik verwendet die Autorin ein weltliches Vokabular und konzentriert sich ganz auf die psychologischen Aspekte ihrer Figuren. Damit ist diese Lektüre auch für kirchen- und gottfremde Lesende geeignet. Ich als gläubige Person habe ich mich allerdings doch auch an einigen Darstellungen gerieben, vor allem an dem Umstand, dass die Religion nur als ein Baustein in einer erschreckend ich-betonten Lebensweise fungiert.

Das Ende hat mich mit dieser Ansicht jedoch wieder etwas ausgesöhnt. Elke findet einen Weg zu ihrer Vergangenheit, zu sich, zu einer Aufgabe, zu einer Hoffnung. Und das ohne bemühtes Pathos oder eine überbeanspruchte All-inclusive-Lösung. "Es ist ein Riss in allem, so kommt das Licht herein." (S. 296).

Diese eigenwillige Geschichte einer Selbstfindung legt schonungslos die Schwächen und die Stärken ihrer sehr menschlichen Hauptfigur dar und überzeugt vor allem sprachlich.