Abgründig-Atmosphärisch-Gesellschaftskritisch

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Susanne Tägder, Die Farbe des Schattens

"Auf der Rückfahrt nach Wechtershagen denkt Groth an das, was ihn am meisten beschäftigt. […] Wie wenig sie in diesem Fall wissen. Alles, was sie anfassen, rinnt ihnen durch die Finger. Groth schaltet im dünnen Verkehr auf der Bundesstraße das Fernlicht ein. Und der Täter ist irgendwo da draußen.“ (206)

Dieser Gedanke kommt Kommissar Groth auf Seite 206. Was ist also auf den letzten 200 Seiten passiert? Warum gibt es noch keine brauchbaren Spuren, Anhaltspunkte, Hinweise auf den Täter? Mäandert der Krimi etwa langweilig dahin? Nein, mitnichten! Auch wenn über weite Strecken scheinbar nicht viel geschieht und erst auf den letzten 42 Seiten die entscheidende Wendung eintritt, legt man auch den zweiten Band um Arno Groth nicht aus der Hand. Man muss weiterlesen!

Im Januar 1992 verschwindet an einem Mittwochabend um 18:00 Uhr der elfjährige Matti Beck. Matti und seine Familie wohnen auf dem Mönkeberg, eine Plattenbausiedlung in Wechtershagen. Wer dort gelandet ist, ist in der Regel arbeitslos bzw. verdient nicht viel. Wenn es schlecht läuft, sind noch Alkohol und Gewalt mit im Spiel. Die Kids haben keine Perspektive, verbringen die Nachmittage im Jugendklub, naheliegend also, dass sie Zusammenhalt bei den Glatzen mit Springerstiefeln suchen. Die Menschen auf dem Mönkeberg sind die Verlierer der Wende, man hält sich raus, man schweigt. In der DDR ging es schnell mit den Verhaftungen. Jetzt hat man nach einer Woche – Matti wurde inzwischen am Sonntag im Keller eines unbewohnten Plattenbaus tot aufgefunden – noch keine Spur, geschweige denn eine Verhaftung. Egal, was die Polizei macht, die Menschen sind misstrauisch. Der Druck der Öffentlichkeit steigt, jener des Vorgesetzten Bekendorf auf Groth ebenfalls. Bald nach dem Leichenfund von Matti gibt es eine Verhaftung, ein Geständnis unter Druck und einen Widerruf. Es gibt nur Indizien, keine Beweise, kein Motiv. Groth war dies klar. Da Bekendorf geht und Groth Interimsleiter der Kriminalinspektion wird, gründet er die Einsatzgruppe „Nachtschatten“, holt seinen alten Kollegen Gerstacker als externen Ermittler ins Boot. Sie stoßen auf einen ungeklärten Mordfall in der Vergangenheit und tauchen in Abgründe ein.

Die Kriminalromane von Susanne Tägder kommen schnörkellos und realistisch daher. Die Schilderung der Wendezeit-Atmosphäre und die Figurenzeichnung stehen im Vordergrund. Wer keine hektischen oder brutalen Polizeieinsätze braucht, auf geheimnisvolles Bauchgefühl verzichten kann, findet hier atmosphärischen Gaumenkitzel mit gesellschaftskritischem Einschlag, der die Wendezeit und ihre Folgen für die Menschen in den Blick nimmt. Die Polizeiarbeit zur Wendezeit, mühevoll und trocken, wird authentisch und detailreich geschildert. Der Aufbau Ost steht erst am Anfang und Vorbehalte der Ost-Kollegen gegen West-Kollegen noch spürbar. Groth ist kein (Über-)Held, sondern ein ambivalenter, an sich selbst zweifelnder Charakter. Während der Ermittlungen denkt er über sein Leben, über seine Verluste nach, und über Irina, eine frühere Mitschülerin von ihm, in die er verliebt ist.
Erfreulicherweise kann Groth zumindest vorläufig seinen Kollegen Gerstacker aus dem ersten Band reaktivieren, der aus dem Dienst entlassen wurde wegen verheimlichter Kontakte zur Stasi. Eigentlich sind die beiden unterschiedlichen Männer ein Dreamteam – wer weiß…

Absolute Leseempfehlung! Den ersten Band vor diesem zweiten zu lesen, kann nicht schaden, ist aber kein Muss.

Erschienen im Tropen Verlag, 336 S.