Ein erstaunlich aktueller Nachwendekrimi

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christian1977 Avatar

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Wechtershagen, im Winter 1992: In der Plattenbausiedlung auf dem Mönkeberg verschwindet der elfjährige Matti auf dem Weg zum Einkaufen. Kurz zuvor hatte er sich noch mit seinem Freund Axel unterhalten, im nächsten Moment fehlt von dem Jungen jede Spur. Hauptkommissar Arno Groth startet umgehend eine großangelegte Suchaktion, die jedoch erfolglos bleibt. Hinzu kommt, dass Groth nicht mehr auf seinen kongenialen Partner Gerstacker setzen kann, dem nach dem Aufdecken seiner Stasitätigkeit gekündigt wurde. Für Groth ein denkbar schlechter Zeitpunkt, sich um die frei werdende Leitungsposition zu bewerben...

"Die Farbe des Schattens" ist nach "Das Schweigen des Wassers" der zweite literarische Kriminalroman von Susanne Tägder, der im Tropen-Verlag erschienen ist. Die Handlung spielt einige Monate nach dem Debütband. Tägder entwickelt darin ihre Hauptfigur Arno Groth konsequent weiter. Wie beim Vorgänger orientiert sich die Autorin an realen Kriminalfällen und verknüpft diese zu einer gelungenen Mischung aus Spannung, Authentizität, Melancholie und Emotionen. Leserinnen anspruchsvoller Kriminalliteratur sollten sich von dem etwas zu sehr auf Thriller gepolten Cover nicht abschrecken lassen. Denn schon die voranstehenden Zitate von Uwe Johnson und Friedrich Dürrenmatt zeigen, dass "Die Farbe des Schattens" mehr ist als nur ein schnöder deutscher Krimi.

Wobei diesmal insbesondere Uwe Johnson im Vordergrund steht. Anders als im ersten Band liest Arno Groth nämlich in dessen Werk und nicht mehr Franz Kafka. Was im Vergleich zum tendenziell leicht stärkeren Vorgänger zudem fehlt, ist der Musikbezug. Während die Leserschaft in "Das Schweigen des Wassers" noch von den Puhdys in deren melancholische Welt hineingezogen wurde, ist diesmal nichts Vergleichbares zu erkennen. Dafür ist der Kriminalfall und dessen Aufarbeitung aber gewohnt stark. Zwar muss man zunächst einmal verdauen, dass die Figur Gerstacker nicht mehr dabei ist, doch bietet die Anknüpfung an einen Cold Case sechs Jahre zuvor Groth zumindest die Gelegenheit, seinen ehemaligen Kollegen diesbezüglich zu kontaktieren. In seiner Melancholie und dem Kriminalfall um einen verschwundenen Jungen erinnert "Die Farbe des Schattens" zudem mehr als einmal in positiver Hinsicht an Friedrich Anis Meisterwerk "Ermordung des Glücks".

Tägder schildert die Arbeit der Kriminalpolizei akribisch. Bei den authentisch wirkenden Verhören ist der Leser genauso nah dabei wie bei den Konferenzen der Polizei mit dem neuen Staatsanwalt. Ein großes Plus ist zudem wie gewohnt die Figurenzeichnung. Ob Ermittler, Zeuginnen und Verdächtige; ob Kinder oder Erwachsene - Susanne Tägder trifft mit ihren bemerkenswert ausgefeilten Charakteren stets den richtigen Ton. Äußerst gelungen ist auch die Aktualität des Romans. Obwohl dieser kurz nach der Wende im Jahr 1992 spielt, finden sich - und man muss es wohl bedauern - erstaunlich viele Anknüpfungspunkte an die Gegenwart. Es gibt die Menschen, die sich in Ostdeutschland als Verlierer der Wende empfinden. Es gibt eine zunehmende Radikalisierung der Kinder und Jugendlichen. Es gibt Grundschüler, die auf dem Schulhof rechtsradikale Parolen brüllen und ältere Schüler, die sich Springerstiefel wünschen. Und es gibt mit der Taxifahrerin Ina eine komplexe Frauenfigur, die sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann versteckt. Und ja, all das spielt 1992 - aber es könnte in dieser Hinsicht genauso gut heute spielen.

Mit "Die Farbe des Schattens" bestätigt Susanne Tägder die Qualität ihres Debütromans und beweist, dass es auch einer Frau gelingen kann, das bislang rein maskuline deutschsprachige Krimi-Triumvirat um Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner zu sprengen. Die Vorfreude auf den dritten Band um den empathischen Ermittler Arno Groth ist jedenfalls groß.