Eine Rachegöttin am Werk

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Madeleine Péricourt war so erzogen worden, dass Geschäfte Männersache sind und sie für die Führung der väterlichen Bank sowieso ungeeignet wäre. Als ihr Vater stirbt, hat das Bankhaus Péricourt keinen männlichen Erben und auf Madeleine lastet die Erwartung des Verstorbenen, den langjährigen Prokuristen Gustave Joubert zu heiraten. Joubert, gewissenhaft, begabt und ohne einen Centime Eigenkapital, erwartet die Vernunftehe mit der Erbin als Dank für seine Dienste im Familienunternehmen. Madeleine enttäuscht Jouberts Erwartungen, gerade weil sie ihn achtet, betont sie. Marcel Péricourts Bruder wirkt als konservativer Parlaments-Abgeordneter schon nicht besonders kompetent, der Luftikus kommt als Nachfolger nicht infrage. Madeleines Sohn Paul ist gerade erst 7 Jahre alt. Zu allem Überfluss stürzt der kleine Paul am Tag der Trauerfeier für seinen Großvater unter rätselhaften Umständen aus dem Fenster und ist fortan gelähmt.

Das Testament des Péricourt Senior könnte man zumindest Joubert gegenüber als boshaft bezeichnen. Der unmündige Enkel erbt einen Großteil des Vermögens, den Madeleine verwalten wird. So wie Madeleine immer eingeschärft worden war, lässt sie Joubert unkontrolliert wirtschaften und verliert vor dem historischen Hintergrund der Weltwirtschaftskrise prompt ihr privates Vermögen. Die ahnungslose Tochter aus gutem Hause sinnt auf Rache – und zwar an Joubert, an Marcels Bruder Charles und an der Presse, die sie für mitschuldig an dem Debakel hält, da sie auf dem Gebiet der Wirtschaft weder kritisch noch neutral berichtet hatte, sondern Interessen zahlender Kunden vertrat.

Während Paul praktisch seine Kindheit überspringt und als selbstbewusster Jugendlicher überrascht, der allein für die Oper lebt, entwickelt Madeleine erstaunliche Fähigkeiten. Wann hat sie sich verändert, habe ich mich gefragt und wie hat sie die erstaunlichen Beziehungen geknöpft, die Basis sein werden für ihren Rachefeldzug ohnegleichen? Indem sie alle Schranken einreißt, die man ihr andressiert hatte, schlägt sie die Personen ihres Umfelds wie Schachfiguren. Das Ausmaß ihres raffiniert geplanten Feldzug nimmt beinahe groteske Züge an und konnte mich immer wieder überraschen.

Die beginnende Weltwirtschaftskrise und Hitlers Machtergreifung 1933 bilden den historischen Hintergrund einer Handlung, die in den Salons des Bürgertums beginnt, jedoch zunehmend den Blick auf die Lebensbedingungen kleiner Leute richtet. Wie ihr Hauspersonal lebt oder die kleinen Sparer, deren Einlagen Madeleine in ihrer Unwissenheit ebenfalls verspielt hat, darüber hat sie vermutlich nie zuvor nachgedacht.

Um Lemaitres Roman mit Überzeugung zu empfehlen, fehlt mir allerdings ein Wendepunkt in Madeleines Entwicklung, der nachvollziehen lässt, wie die Rachegöttin ihr Handwerk gelernt hat.