Kalte Rache

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
scarletta Avatar

Von

Der Roman beginnt in tristen Schwarz- und Grautönen. Auf der pompösen Begräbnisfeier des reichen und mächtigen Bankiers Marcel Péricourt wird alles was Rang und Namen im Paris des Jahres 1927 hat, erwartet, selbst der Staatspräsident will dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen. Da stürzt plötzlich der Enkel des Bankiers, der kleine Paul, aus dem Fenster des zweiten Stocks und wird den Rest seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen sein.

Seine Mutter Madeleine, Tochter und Haupterbin von Marcel Péricourt befindet sich zunächst in einem Schockzustand und ordnet dann alles der Pflege ihres Sohnes Paul unter. Die Erbschaftsangelegenheiten und die Bankgeschäfte legt sie vertrauensvoll und gutgläubig in die Hände des langjährigen Prokuristen Gustave, der sich schon lange und vergeblich Hoffnungen auf eine Ehe mit der geschiedenen Erbin gemacht hatte.
Madeleine hat keine Wahrnehmung dafür, was in den Menschen vor sich geht, die sie umgeben, denen sie Vertrauen schenkt, sei es die Hausdame oder der Hauslehrer. Sie spürt nicht, wie sich das Netz aus Neid, Geltungssucht und Habgier enger um sie schließt, wie sie manipuliert und ausgebeutet wird.
So fühlen sich ihr Onkel, der Politiker Charles und der Prokurist Gustave Joubert um einen in ihren Augen angemesseneren Anteil am Erbe betrogen. Die Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit Madeleines bestätigt ihre Vorurteile und bestärkt sie in ihren hinterhältigen Plänen.
In dieser Zeit der Wirtschaftsdepression und des aufsteigenden Faschismus gelingt es Charles Péricourt und Gustave Joubert rasch, Madeleine auf übelste Art und Weise um ihr gesamtes Erbe zu bringen.

Madeleine, die nun nicht nur ihre eigene Existenz, sondern auch die Zukunft ihres Sohnes ruiniert sieht, sinnt auf Rache und sucht sich einen Verbündeten, um diese Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nicht nur jene, die sie um ihr Erbe betrogen haben, sondern auch der Schuldige am Leid ihres Sohnes sollen dafür büßen.
So ahnungslos sie ins Verderben taumelte, so bösartig und ausgetüftelt sind ihre Rachespielzüge.
Der große Teil des Romans ist die Geschichte einer Vergeltung und Abrechnung in den Zeiten des Umbruchs, am Beginn der dunklen 30iger Jahre.

Fazit

Pierre Lemaitre gelingt es sehr gekonnt die Stimmung jener Zeit aufzubauen. Er führt die wichtigsten Protagonisten gleich zu Beginn der Geschichte so geschickt ein, dass man sich ein präzises Bild von ihrem Charakter machen kann. Die Figuren sind authentisch, sehr gut ausgearbeitet und zeigen eine spannende Entwicklung im Laufe des Romans.
So wird aus der ahnungslosen Madeleine eine strategisch und kaltblütig vorgehende Frau, getrieben von Rache und der Sorge um ihren Sohn. Allerdings ist sie dabei auf ihren männlichen Helfer angewiesen.

Die Wut und Rachegelüste Madeleines konnte ich anfangs aufgrund der Hinterlist ihrer Widersacher noch nachvollziehen, auch wenn es mir nicht gelang, mich in sie hineinzuversetzen. Doch im Laufe ihres moralisch immer zweifelhafter werdenden Rachefeldzuges wuchs meine Distanz zusehends.
Sollte dies das Abbild jener Zeit sein, die an Grausamkeit und Brutalität gewann?
Insgesamt hatte ich Mühe, eine Figur zu finden, die mir sympathisch war. Meine Sympathie konnte ich eigentlich nur Pauls polnischen Kindermädchen Vladi schenken. Sie verweigerte sich der französischen Sprache, kommunizierte stets Polnisch, verbreitete Wärme, Herzlichkeit und liebevolle Tatkräftigkeit. Das, was mir eigentlich am ganzen Roman so sehr fehlte.