Unterschätzt

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rabentochter Avatar

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Als Madleines Vater stirbt und sie mit dem Erbe und der Verantwortung für die Bank der Familie allein lässt, fühlt sich die junge Frau zunächst erschlagen und überfordert. Sie muss ihren eigenen Weg finden, um ihr Leben zu gestalten und sich durchzusetzen in einer Welt, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg steht und Frauen nicht gerade viel Selbstständigkeit zutraut.
Wie Madleine unterschätzt wird, so unterschätzte ich das Buch, das aber bald mit all seiner erzählerischen Kraft zurückschlug, ebenso wie sich die Protagonistin beginnt zu wehren und an ihren Herausforderungen zu wachsen. Bald hatte der Roman mich gefangen und ließ mich nicht mehr los. Ich war zugleich schockiert und fasziniert von der Skrupellosigkeit der Figuren, mit der sie vorgehen, um zu bekommen, was sie wollen. Erst eher verschlafen und träge plätschert die Handlung vor sich hin, nimmt sich Zeit ihre Figuren vorzustellen, sie wirken zu lassen und langsam zu entfalten, bis auf einmal Fahrt aufkommt, der Wind sich dreht, alles anders wird: Rasant, unberechenbar, als wäre nicht nur Madleine, sondern mit ihr auch die Geschichte aus ihrer Ruhe, aus ihrer Bequemlichkeit erwacht. Alles in allem ein grandios aufgebauter Spannungsbogen, der fesselt, aber nicht seinen feinen Sinn für Humor (basierend auf Ironie und teilweise auch auf Sarkasmus) in seinen Beobachtungen verliert. Immer wenn man denkt, es könne nicht mehr dicker kommen, überrascht die Handlung einen erneut und man liest mit Staunen weiter.
Der Erzähler durchbricht die Barriere zum Leser, spricht ihn immer wieder direkt an, macht dies aber sehr feinsinnig und wohl dosiert. Er erinnert den Leser an bereits erwähnte Figuren oder Handlungsabschnitte, manchmal aber auch nur an bestimmte kleine Details, die jetzt wieder wichtig werden.
Die Darstellung und der Aufbau der Figuren, wie von ihnen berichtet wurde und wie sie sich entwickelt haben, wie sie diese Entwicklung oft erst im Nachhinein herausstellte, all das hat mir sehr gut gefallen. Der Roman ist sehr fein geschrieben, mit dem nötigen Fingerspitzengefühl für die richtigen Bemerkungen, Worte und Satzkonstruktionen. Die nötige Prise Humor fehlt ebenfalls nicht und kommt immer wieder hervor. Es ist ein Genuss dieses Buch zu lesen!
Fazit: Ein Porträt einer Frau und einer Zeit, das fasziniert, erschüttert, zum Lachen bringt und einen mitfiebern lässt bis zum letzten Satz.