Ein fesselndes Stück Medizingeschichte! Wirklich lesenswert!

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scarletta Avatar

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Ist Euch die Werbekampagne mit dem Slogan: "Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß." ein Begriff? Genau: Polio!

Polio (Kinderlähmung) ist keine neuzeitliche Erkrankung, aber in bedrohlichem Umfang verbreitete sie sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die USA beispielsweise wurde immer wieder von epidemischen Wellen überzogen. Das Rennen um einen Impfstoff begann, denn eine Heilung war und ist bis heute nicht möglich.

1960 wurde in den USA ein effizientes Vakzin mit lebenden Viren in Form einer Schluckimpfung entwickelt und 1961 dort in erfolgreichen Massenimpfungen eingesetzt.
1963 wurde endlich auch in Westdeutschland die Schluckimpfung gegen Polio zugelassen. Eine Welt ohne Polio gibt es leider immer noch nicht, aber durch Impfungen wird diese grausame Krankheit in Schach gehalten.

Wer aber steht hinter der Entwicklung dieser Impfstoffe? Zauberten die Amerikaner Jonas Salk und Albert Sabin ihre jeweiligen Entdeckungen einfach aus dem Hut? Wie oft in der Geschichte von Medizin, Kunst u.v.m. stehen Frauen dahinter, deren Namen oft genug gar nicht mehr erwähnt werden.

Wichtig im Kampf gegen Polio ist die Rolle von Dr. Dorothy Hoffmann, deren Name hierzulande fast unbekannt ist. Deshalb bin ich froh, dass die Autorin Lynn Cullen sich der Geschichte um diese starke, bahnbrechende Frau angenommen hat, um ihr Leben und Werk wieder der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn Geschichten dieser Art sind leider in der Literatur immer noch unterrepräsentiert. Schaut man sich im aktuellen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben um, haben gerade diese Frauen es leider immer noch sehr schwer, wie Dorothy zu ihrer Zeit.

Lynn Cullen verfasst mit „Die Formel der Hoffnung“ (Orig. „The Woman with the Cure“) betont einen historischen fiktionalen Roman. Dieser basiert auf dem wahren Hintergrund der Entwicklung des Impfstoffes und des Lebens der amerikanischen Wissenschaftlerin Dorothy Horstmann.

Bevor ich dieses Buch gelesen habe, war auch mir der Name Dr. Dorothy Horstmann nicht geläufig. Wenn man Informationen über den Polio-Impfstoff im deutschsprachigen Netz sucht, tauchen nur zwei Namen auf: Jonas Salk und Albert Sabin. Dorothy Horstmann bleibt unerwähnt, obwohl sie wichtigste Grundlagen entdeckt hat, die die Entwicklung des Impfstoffs überhaupt erst ermöglichten. Auch in diesem Zusammenhang tauchen nur Namen von männlichen Wissenschaftlern wie z.B. Bodin auf, der Dorothys Ideen aufgegriffen hat. Währenddessen wurde Dorothy in der Weiterentwicklung ihrer Theorie in der männerdominierten Wissenschaft behindert.

Was erwartet uns in Cullens Roman? Der Zeitrahmen umfasst die 1940-1960iger Jahre. Genau in dieser Zeit verschlimmerten sich die Ausbrüche von Polio in den USA. Dorothy sieht sich herausgefordert beizutragen, den Kindern in der Zukunft das Leid einer solchen Erkrankung zu ersparen. Sie widmet ihre ganze wissenschaftliche Karriere der Suche, wie Polio entsteht und sich entwickelt. Denn es fehlt schon an dem Wissen um die Grundlagen.
Zu ihren Forschungen gehören Reisen um die Welt zu den jeweiligen intensivsten Ausbrüchen der Krankheit.

Auffällig ist Dorothys extreme Entschlossenheit und ihre Furchtlosigkeit, denn es liegen genug Hürden auf ihrem Weg. Sie muss sozialen Widrigkeiten, Frauenfeindlichkeit, Übergriffen, beruflicher Ausgrenzung trotzen. Wie so viele Frauen vor und nach ihr wurde sie in ihrer wissenschaftlichen Meinung nicht erst genommen oder unterschätzt von ihren männlichen Kollegen und Vorgesetzten. Was musste Dorothy alles für ihren wissenschaftlichen Traum opfern, während ihren männlichen Kollegen alles geschenkt wurde: Familie, Erfolg, Ruhm

Die Autorin schenkt Dorothy eine fiktionale romantische Beziehung zu einem sehr sympathischen Mann (vermutlich gab es eine solche eh auch in ihrem Leben). Man bangt lange darum, ob es ihr gelingen wird, die Herausforderungen ihres wissenschaftlichen Berufes und die Beziehung unter einen Hut zu bringen. Ihren männlichen Kollegen wird es da viel leichter gemacht.

Dass es wissenschaftlich ein Happy End gibt, ist ja kein Spoiler oder Geheimnis.


Fazit
Auch wenn es sich um einen Roman handelt, so erhält man eine große Vielfalt an interessanten, gut lesbaren Informationen über Polio, seine Geschichte, die Entwicklung des Impfstoffes und die beteiligten Wissenschaftler*innen.
Bestürzend ist dabei die Schilderung der Leiden der Erkrankten. Kein Wunder, dass Dorothy so motiviert vorging.

Ich habe dieses spannende und fesselnde Stück Medizingeschichte schier verschlungen. Die dargestellten Protagonisten kann man sich gut vorstellen, da sie sehr einfühlsam geschildert werden. Auch wenn viele Personen erscheinen, verliert man nicht den Überblick. Charaktere, die nur der Fiktion entstammen, wie auch die historischen Personen sind alle im Anhang noch einmal gesondert aufgeführt.

Eindrucksvoll und sehr authentisch fand ich die Darstellung von Dorothys Haltung und Emotionen. Ihre Beharrlichkeit, die Ausdauer ihre eigenen Wünsche ihrem Ziel unterzuordnen ist bewundernswert und inspirierend
Es ist schon etwas frustrierend zu verfolgen, wie lange es dauerte, bis sie Stufe um Stufe die Leiter in einer männerdominierten Wissenschaft emporkletterte. Und das für eine Wissenschaftlerin ihrer Fähigkeiten. Wie viel schneller wäre die Entwicklung des Impfstoffes von statten gegangen, wenn Konkurrenzdenken und Sexismus nicht so vorherrschend gewesen wären…

Durch Dr. Dorothy Horstmann als Hauptcharakter werden gleich mehrere wichtige persönliche Themen in den Roman eingebracht: ihre spezielle Problematik als Tochter von Immigranten, ihre Auseinandersetzung mit der Frauenrolle in dieser Zeit, die schwierige politische und gesellschaftliche Situation in diesem Zeitraum, Gender–Ungerechtigkeiten, die Wissenschaft als männerdominierter Bereich.

Sehr hervorzuheben ist, dass zwar Dorothy Horstmann im Fokus des Romans steht, aber immer wieder anderen Frauen, die wichtige Rollen in der Impfstoffentwicklung spielten, Beachtung geschenkt wurde. Wie schnell werden sie vergessen: die Mütter der erkrankten Kinder, Krankenschwestern, Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen, Assistentinnen, Statistikerinnen, auch die Ehefrauen von Wissenschaftlern.
Sehr ansprechend fand ich auch das Cover, das mich einerseits an ein Puzzle, andererseits an die vielen Facetten der dargestellten Frau erinnert.