Eine Zeitreise in die Welt der Stenografie und des Grammophons; der "20er"....

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
swansea Avatar

Von

Der Roman erschien in Hardcover-Version im btb-Verlag (Gruppe Randomhouse) 2015 und ist in jeder Hinsicht als außergewöhnlich zu sehen: Ein Cover, das an Ausdrucksfähigkeit der abgebildeten hübschen jungen Frau (die gleichsam an Odalie erinnert, der wir im Roman begegnen) aus den "Wilden 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kaum zu überbieten ist: Der Leser wird in die Zeit der Stenografie, des Grammophons, des Charlestons und den Anfängen des Cinemas und der Charlie Chaplin-Filme sowie der Zeit von Al Capone ins New York der "Roarind Twenties" geradezu hineinkatapultiert....

Es handelt sich bei diesem Roman, das Début von Suzanne Rindell, um eine anspruchsvolle Lektüre, die dem "außenstehenden Betrachter" (dem Leser) einiges abverlangt; ihn dafür jedoch mit einer spannenden und subtil sowie zeitgeschichtlich interessanten Geschichte aus dem NY., genauer gesagt, dem Manhattan der 20er Jahre mehr als entschädigt.
Die zwei Hauptprotagonisten sind Rose, ein ehemaliges Waisenkind, dessen Intelligenz jedoch früh erkannt und gefördert wird, so das es ihr möglich ist, in einem N.Y. Polizeirevier als Stenotypistin zu arbeiten als auch ihre neue Kollegin Odalie, deren Herkunft lange im Dunkeln bleibt, die jedoch im Gegensatz zu Rose sehr glamourös, selbstbewusst, scharfzüngig, kokett und manipulativ auftritt: Alles Attribute, die Rose alles andere als ihr eigen oder zu ihrem Charakter gehörend bezeichnen kann... Während Rose die "Perfektion der Unscheinbarkeit" stets versuchte zu optimieren, Puritanerin ist und in einfachen Verhältnissen lebt, nimmt sich Rose - bereits in der Kindheit erlernt - was sie will: Vom Leben und von den Menschen! Sie residiert in einem Apartment-Hotel und die beiden Frauen, die sich hier zusammen tun, zusammen ziehen, könnten gegensätzlicher kaum sein: Eine (fallengelassene) Brosche bildet den Auftakt zu einer Freundschaft, in der Rose's Leben, das zuvor voller selbstauferlegter Reglements bestand, die ihr Sicherheit gaben, eine für sie völlig fremde und unbekannte Welt betritt, die von Glamour, Flüsterkneipen, "Halbwelten", einer gewissen "Verruchtheit" und auch Oberflächlichkeit beherrscht wird: An der Seite der schönen Odalie, die sich kokett und raupenartig sowie selbstbewusst in dieser Welt bewegt, gewinnt Rose an Selbstsicherheit - und innerer Befreiung...
Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben und stellt Zusammenhänge ("Wendepunkte") in Roses Leben dar, da diese Tagebuch über die neue Freundin Odalie führte und die gemeinsamen Monate, in denen beide das Apartment im Hotel bewohnten, darin festhält: Stilistisch in einer "jovialen Eleganz" (wie die Klavierübungen des Musikstudenten) wird dem Leser mehr und mehr klar, dass Rose immer mehr der manipulativen Odalie, die die aufbrechende, autarke Frauenbewegung jener Zeit zu personifizieren scheint, verfällt und sie willenlos erscheinen lässt: Rose möchte mehr und mehr wie Odalie sein und ist völlig vernarrt in die freundin, von deren Lügen und Ungereimtheiten sie zwar weiß und sie erkennt, sich aber völlig blind diesen gegenüber verhält. Die Freundschaft wird immer stärker durch obsessive Merkmale gekennzeichnet, da Rose immer wieder insgeheim fürchtet, Odalie als Freundin verlieren zu können...
Obgleich Rose erkennt, dass Odalie "Die Stenotypistinnenstelle angetreten hatte, um das System zu manipulieren", lässt sie sich doch zu ihrer Komplizin machen: Unter dem Einfluss Odalies verändert sich Rose mehr und mehr. Sie reagiert auch nicht auf dubiose Geschichten, die Odalie zu den beiden diamantenen Armbändern zu erzählen weiß: Diese sollten später Roses Schicksal besiegeln... Sie nimmt sie gleichwohl als Geschenk an (da iahr ander Zuneigung Odalies sehr gelegen ist, sie die "No.1" in deren Leben sein möchte) - und lässt sich damit noch enger an die (vermeintliche) Freundin anketten...
Dieses "sich ausliefern" und alle inneren "stop!-Schilder" überfahrend bewegten sich für mich persönlich hart an der Grenze der Nachvollziehbarkeit; doch der Autorin gelingt es durch den unglaublich intensiven Einblick in die ungleiche Freundschaft der beiden Frauen, eben diese Obsession seitens Rose, die trotz Verrat der Freundin Odalie noch immer beschützen will, glaubhaft darzustellen - was mich als "außenstehenden Beobachter" etwas bestürzt und fassungslos zurückließ...
Das letzte Romandrittel ähnelt einem Kriminalroman und gipfelt in einer Identitätsänderung Odalies - und ihrem Neubeginn, während rose in einer psychiatrischen Anstalt darauf wartet (und andererseits kaum darauf hofft), dass Odalie sie besuchen wird: Hier spielt die anfangs erwähnte Brosche eine der Hauptrollen, die ihr von Beginn an zugedacht war... Rose führt eine Art Befreiungsakt durch, indem sie sich die Haare (in Boblänge, wie Odalie) abschneidet: In einem recht fulminanten Ende nimmt etwas Rebellisches Gestalt in ihr an und nimmt die Stelle ein, wo zuvor Ergebenheit und Unterwerfung sowie Unscheinbarkeit und Unfreiheit standen.

Fazit:
Ein anspruchsvoller, außergewöhnlicher Roman, der mehrere Genren in sich vereinigt (Frauenroman, Gesellschaftsromen, historischer Roman, psychologischer Spannungsroman und Kriminalroman) und dem Leser einiges abverlangt; da er sich auf einem ironisch geprägten und der Zeit der Roaring Twenties entsprechenden Sprachstil trifft und sich dieser Stilmittel der Autorin "unterwerfen" muss: Belohnt wird der Leser mit einer spannenden Geschichte aus längst vergangener Zeit, die viele Fragen zu zwischenmenschlichen Beziehungen aufwirft, die zeitlos ihre Berechtigung haben. Mich persönlich sprach dieser Roman sehr an, da er von den (ersten) Aufbrüchen der Frauenbewegung erzählt, Einblicke gibt in die Welt alleinstehender Frauen vor fast 100 Jahren, die in Schreibkraftberufe aufbrachen und ihre eigene Existenz aufbauten: In jeder Hinsicht aus dem tradierten Rollenbild ausbrechen wollten; auch zur Stenografie und zu Schreibmaschinen habe ich selbst eine große Affinität: Mein Berufsleben begann ebenso - und Stenografie ist bis heute eine (leider längst antiquierte) "Geheimsprache" geblieben, die auch ich beherrschte: Auf die geplante Verfilmung mit Keira Knightley (Regie und Hauptrolle) bin ich bereits jetzt sehr neugierig und kann den Roman geneigten und interessierten Lesern sehr empfehlen!