Starke Frauen in stürmischen Zeiten – ein fiktiver Blick auf die Bonner Republik

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saskian Avatar

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„Die Frau der Stunde“ von Heike Specht entwirft ein überzeugendes Gedankenexperiment: Was wäre gewesen, wenn 1978 eine Frau zur Außenministerin und Vizekanzlerin in der Bonner Republik geworden wäre? Catharina Cornelius, Politikwissenschaftlerin und erfahrene Parlamentarierin, wird durch einen politischen Skandal in diese Position gehoben – ein strategischer Schritt, ja, doch mehr als das: Ihre Autorität beruht auf Willenskraft, Fingerspitzengefühl und dem Rückhalt eines starken Netzwerks.

Die Handlung wechselt zwischen Bonn und Teheran, und genau diese Verflechtung von innerdeutscher Politik und internationalen Umbrüchen verleiht dem Roman Tiefe. Die Freundinnen Suzanne und Azadeh stehen nicht nur symbolisch, sondern real als Gegenpole und Spiegel für Catharina: Suzanne kämpft mit alltäglichen Erwartungen an Ehe, Mutterschaft und Karriere, Azadeh mit dem politischen Umbruch im Iran. Die drei Frauen verkörpern unterschiedliche Spielarten von Emanzipation und Freiheit – und die Herausforderungen, die damit verbunden sind.

Sprachlich gelingt Specht vieles: Der historische Hintergrund wird lebendig, die Atmosphäre der späten Siebzigerjahre – in Bonn wie auch in Teheran – spürt man in Mode, Musik, Medien und gesellschaftlichen Konventionen. Der Schreibstil ist flüssig, mitunter elegant und oft eindrucksvoll in politischen Szenen – etwa im Bundestag oder bei diplomatischen Begegnungen. Man spürt, wie wenig Frauen damals zugetraut wurde, und wie sehr sie mit doppelten Standards zurechtkommen müssen.

Bei allem Lob aber auch Kritikpunkte: Die Figuren, insbesondere die Nebenfiguren, sind zahlreich – nicht alle entfalten ihr Potenzial. Einige Perspektivwechsel lenken vom zentralen Strang ab, ohne dass sie immer neuen Erkenntnisgewinn bringen. Ebenso könnte man sich mehr realpolitische Tiefe wünschen: Details zu außenpolitischen Entscheidungen, Machtmechanismen und Parteistrategien bleiben manchmal eher skizzenhaft. Der Fokus liegt stark auf emotionalen und persönlichen Dimensionen, weniger auf der politischen Theorie oder Analytik. Auch endet die Erzählung abrupt; ein Epilog oder ein Blick in die Zukunft hätte das Ganze abgerundet.

Insgesamt besticht der Roman durch sein Thema, die starke weibliche Hauptfigur, seinen historischen Rahmen und die Frage nach Gleichberechtigung – und macht deutlich, wie aktuell vieles davon noch immer ist. Ein lohnender Roman für alle, die starke Charaktere, politisches Drama und ein gutes Stück feministischer Zeitgeist schätzen.