Liebe und Verrat

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marionhh Avatar

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Seit dem Tod ihrer Eltern lebt Alice Fisher allein in ihrem Haus auf Shearwater Island, einer kleinen, schlecht erreichbaren Insel in der britischen See. Auf der Insel leben nur eine Handvoll Menschen, und obwohl alle aufeinander angewiesen sind und sie alle eine eingeschworene Gemeinschaft bilden, graut Alice vor den einsamen Wintermonaten. Da kommt ihr die Anfrage des Schriftstellers Patrick Fox gerade recht: Er möchte die Wintermonate auf der Insel verbringen, um an seinem Buch zu arbeiten. Kurz entschlossen und entgegen der Widerstände der Inselbewohner nimmt Alice Patrick bei sich auf, und es dauert nicht lange, da genießt sie die gemeinsamen Abende, kocht für ihn und richtet bald ihr ganzes Leben auf ihn aus.

Patrick bemüht sich sehr, auch mit den anderen Inselbewohner Freundschaft zu schließen, doch nicht jeder steht ihm aufgeschlossen gegenüber. Alice jedoch verliebt sich in ihn, und entgegen jeder Warnungen lässt sie sich auf ihn ein und glaubt an eine gemeinsame Zukunft. In ihren gemeinsamen Abenden und Nächten vertraut sie ihm immer mehr Klatsch und Tratsch und ihr Wissen über die Inselbewohner an, und auch ihr eigenes, bestens gehütetes Geheimnis findet bald seinen Weg zu ihm. Da jedoch begeht Patrick einen Verrat an ihr und an den Inselbewohnern, und Alice steht im Kreuzfeuer der Kritik, war sie es doch, die die meisten Geheimnisse und damit ihre Gemeinschaft an einen Fremden verraten hat. Alice muss sich entscheiden, wem ihre Loyalität gilt und wie sie ihre Zukunft gestalten will.

Ein bemerkenswerter Roman über eine junge Frau, die an mehreren Scheidewegen steht und die ihre Feigheit, Sturheit, ihr Selbstmitleid und ihre Angst vor der Einsamkeit überwinden und selbständig Entscheidungen treffen muss. Die schlimmsten Geheimnisse sind die unausgesprochenen und nicht verarbeiteten, und so knabbert auch Alice an einem Trauma aus ihrer Kindheit. Durch ihre Feigheit und Angst werden zwei Menschen völlig falsch eingeschätzt, wird der eine verunglimpft und der andere in den Himmel gelobt, dabei weiß sie es besser, deckt aber die wahren Umstände nicht auf. Sie selbst schlägt sich durch Verdrängung durchs Leben und unterdrückt ihre wahren Gefühle und Begierden. Insofern ist es sicherlich Patrick zu verdanken, der ungeahnte Gefühle in ihr weckt und ihre Befangenheit löst, sie fühlt sich begehrt und geliebt. Dass Patrick aus ganz anderen Motiven heraus Interesse an ihr hat, geht ihr erst viel zu spät auf. Auch hier funktioniert ihr Verdrängungsmechanismus ganz hervorragend, und unbequeme Fragen blendet sie einfach aus.

Der große Pluspunkt dieses Romans sind die gut herausgearbeiteten Charaktere, die großartig beschriebene Gesellschaft der Insel, die teilweise turbulenten Kleinkriege und die kleinen und großen Geheimnisse der Insel. Sonst passiert nicht allzu viel. Der Roman lebt aber auch nicht von großen Action- oder Liebesszenen, sondern von den Kümmernissen der Einzelnen und dem Zusammenhalt der Gemeinschaft und den mitunter skurrilen und allesamt sehr liebenswerten Inselbewohnern. Zum Glück geht mit Alice ein deutlicher Wandel vor, denn sonst sind ihre Naivität und Ignoranz zeitweise nicht zu ertragen. Dass Patrick sie ausnutzt und dass es mit ihm nichts wird, wird dem Leser schon recht früh klar. Patrick ist egozentrisch, eitel, berechnend, selbstverliebt und benötigt permanent Zuspruch und Aufmerksamkeit und nutzt Alice nur aus, um eine gute Story erzählen zu können. Neugierig schnüffelt er in intimen Geheimnissen herum und sensationsgierig geiert er nach immer mehr schmutzigen Details. Der eine oder andere Inselbewohner erkennt das recht schnell, Alice benötigt aber einen eindeutigen Beweis, um sich darüber klar zu werden, dass Patrick sie ganz bewusst hintergangen und ausgenutzt hat. Ihre Entscheidung jedoch, zu sich und ihren Plänen zu stehen und Verantwortung zu übernehmen, ist nachvollziehbar und großartig, entspricht ihrem Charakter und macht sie authentisch und sympathisch. Ihre Fähigkeit zu verzeihen und sich auf Menschen, die sie vermeintlich enttäuscht haben und die sie glaubt enttäuscht zu haben, wieder einzulassen und etwas Neues zu beginnen nötigen großen Respekt ab. Am Schluss beweist sie große Stärke und so versöhnt das Ende doch sehr mit dem teilweise schwer nachvollziehbarem Verhalten Alices.

Fazit: Für alle Fans des stillen Gesellschaftsromans. Keine reine Liebesgeschichte, keine große Action, aber tolle Charaktere und wunderbare Beschreibungen der Menschen. Wie die Inselbewohner mit ihren Schicksalsschlägen und Fehlern umgehen ist bewundernswert, und der Wandel von Alices Persönlichkeit ist spannend und wiegt ihre vergangenen (Fehl-)Entscheidungen, ihre Passivität und Feigheit auf. Der Schluss ist sehr befriedigend, ein „happy end“. Der Roman lässt sich sehr gut lesen, ist flüssig geschrieben, jedoch alles andere als simpel. Weder belehrend noch hochtrabend psychologisch, sondern eine liebevolle Darstellung des Lebens auf engstem Raum. Die Beschreibungen der Insel sind fast schon poetisch, und das raue und abgeschiedene Eiland in der britischen See wird zum Zufluchtsort und erstrebenswerten Ziel, an dem man sich geborgen fühlt und auf dem sich alle aufeinander verlassen können. Ein Buch zum Fallenlassen und Wegträumen!