Ein Epos für die Frauen Siziliens, wie ein antiker Heldengesang

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kleine hexe Avatar

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Wunderschöner Roman, der es geschickt vermag, unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen zu verbinden. Der Schreibstil ist ruhig, erzählerisch, ohne je hastig zu werden, auch wenn das Thema schrecklich oder brutal ist. Als ob die Sonne Siziliens alles verklären aber auch alles ans Licht zerren würde. Das Wunderschöne und Begeisternde, aber auch das Harte, Tödliche. Alles liegt offen, vor den Augen der Sizilianer.
Die Münchner Jahre der Familie Carbonaro hingegen sind von der deutschen Wirklichkeit der Zwischenkriegszeit und den Bombennächten und Terror während des Zweiten Weltkriegs, der fanatischen Nazi-Ideologie einiger Nachbarn und Schulkinder. geprägt.
Zu den schönsten und auch bedeutendsten Szenen des Buches gehört gleich die Eröffnungsszene. Der Autor erzählt von der Begegnung mit drei Carbonaro-Frauen: Urgroßmutter Pina, Großmutter Anna, Tante Maria, als Vertreterinnen aller Carbonaro-Frauen: “Ich weiß, wo ich bin. Dies ist das Haus der Zeit, dort, wo Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. In den Zimmern, Sälen, Kammern und Nischen sitzen die Geister eines vergangenen Jahrhunderts, raunen sich Dinge zu und runden die Kanten. Eines Tages werde ich einer von ihnen sein oder bin es bereits. Die drei Frauen vor mir sind meine Familie. Ich bon hier, um ihnen zuzuhören.” (S. 13). Der Autor hält Wort, er hört diesen Frauen zu, lässt sie geduldig zu Wort kommen, lässt sie von ihrem harten Leben erzählen, von den vielen Kindern, die sie geboren haben, von denen nicht viele überlebt haben, wie sie ihr Schicksal auf sich genommen haben und um ihr bisschen Glück und Freiheit gekämpft haben.
Allen dreien blieb der Lebenstraum verwehrt: die eine wollte ihrem Mann im Geschäft zur Seite stehen, die andere wäre gern Sängerin geworden, die dritte wäre gern Großhändlerin geworden, um sizilianische Früchte und Säfte nach Deutschland zu exportieren. Sie durften oder konnten es nicht tun, weil sie Frauen in einer strikten Männerwelt waren. Und doch hat jede von Ihnen es den Frauen in der nächsten Generation ermöglicht, wenigstens einen Teil ihrer Träume zu verwirklichen. Sei es die Tochter, die öffentlich auftreten und singen darf, oder die Tochter, die eine höhere Schule besuchen kann. Diese drei Frauen besitzen einen doppelten Schatten, der sie als Nachfahrinnen von Meeresnixen ausweist. In Sizilien können andere Frauen ihre Schatten sehen und meiden sie. In München hingegen sind diese Schatten nicht mehr sichtbar, sie können sich ungehindert auf den Straßen bewegen.
Alle drei Frauen heiraten den Mann, den sie lieben, doch die Männer der ersten beiden Generationen sind Patriarchen, oder wären es gern, zu stolz und zu schwach zugleich, auf Ihre Frauen zu hören. Nur Maria, die Frau aus der dritten Generation, heiratet nach einer großen Enttäuschung in der Liebe endlich einen Mann, den sie liebt, der sie liebt, und der ihr vor allem zuhört und ihr helfen will, ihren Traum zu verwirklichen. doch er stirbt viel zu früh an einer unerbittlichen Krankheit und Maria muss ihre Firma verkaufen und kehrt mit ihrem Kind nach Sizilien zurück.
Das Buch endet in einer versöhnlichen und bejahenden Stimmung: “Wir waren die Frauen der Familie Carbonaro… Wenn es Tag wurde, würden wir wieder zwei Schatten werfen, aber wir fragten nicht mehr, wer wir sind. Wir sind das, was man von uns erzählt.” (S. 503”