Das Mystische war mir zu viel, sonst sehr gutes Buch

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annajo Avatar

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Carcassonne, 1942: Sandrine Vidal muss ungläubig mitansehen, wie sich Frankreich unter der deutschen Besatzung verändert. Ihre Schwester arbeitet für das Rote Kreuz und bleibt darüberhinaus oft und bis spät in die Nacht weg. Die Nachbarn beobachten und schwärzen an und die Vorgehensweise der Miliciens und des Deuxieme Bureau wird immer brutaler.

"Die Frauen von Carcassonne" ist eine Hommage an die weiblichen Widerstandskämpfer, die in historischen Dokumenten oft nicht genug gewürdigt werden. Der Titel beschreibt eine Gruppe, die völlig verschiedene Persönlichkeiten vereint, die über die Jahre 1942 bis 1944 immer enger in Freundschaft zusammenwachsen: Sandrine selbst und ihre Schwester Marianne, die sich seit dem Tod des Vaters um Sandrine kümmert; die alte Haushälterin Marieta, die große und auffällige Suzanne, die Jüdin Liesl und Lucie, die eine Liebesbeziehung mit Liesls Bruder und somit einem Juden hat. Sandrine steht im Mittelpunkt der Geschichte, die Perspektive wechselt jedoch immer wieder auch zu sonst noch relevanten Handlungssträngen der Jahre 1942-1944 sowie in die frühchristliche Zeit.

Sandrine und ihre Freundinnen geraten bald in das Visier des skrupellosen Leo Authié, nachdem Sandrine am Fluss einen verletzten Mann findet, der sie auf die Fährte eines mystischen Dokuments schickt. Wie bereits in bisherigen Büchern der Autorin haben natürlich auch andere Gruppen ein Interesse an diesem Dokument. So werden Zeitgeschichte und Mystikthriller auf fast 900 Seiten verwoben und Sorgen für jede Menge Handlung und Spannung.

Leider war mir der mystische Teil zu übertrieben und konstruiert. Ich kenne bislang nur "Das verlorene Labyrinth" der Autorin, das sich mit Dokumenten der Katharer befasst, die ebenfalls mystische Wirkung versprechen und diverse skrupellose Interessenten auf den Plan rufen. In "Die Frauen von Carcassonne" nun handelt es sich um einen Codex aus frühchristlichen Zeiten, den die Kirche als Ketzertum verurteilt, der aber in den richtigen Händen die Welt retten könnte. Den Handlungsstrand um das Widerstandsnetzwerk fand ich sehr gelungen und die geschilderte Angst vor dem Entdecktwerden und dem, was den Widerstandskämpfern unter den Nazis droht, ist nahezu greifbar und ließ mich oft den Atem anhalten. Der Handlungsstrang um den Codex dagegen fand ich überflüssig und die Auflösung übertrieben, zumal es sich um eine Situation handelt, die erst durch den Codex selbst heraufbeschworen wurde. Ebenfalls etwas irritiert haben mich die vielen Verweise auf die Handlungen der bisherigen Bücher der Autorin und die Auflösung des Codex-Strangs wird genutzt, um noch einmal alle Figuren der bisherigen Bücher Revue passieren zu lassen. In einem Buch, das auf fast 900 Seiten diverse Figuren einführt, fand ich es sehr verwirrend, hier nun auch noch einmal mit zusätzlichen historischen Figuren konfrontiert zu sein, deren Geschichten nicht näher erläutert werden.

Im résistance-Handlungsstrang dagegen waren die Figuren, besonders in ihrer Entwicklung, sehr überzeugend und boten gutes Identifikationspotential. Ihre Handlungen waren gut nachvollziehbar, wenn auch manchmal etwas zu schwarz-weiß gezeichnet. So achten die résistants immer peinlich genau darauf, keine Zivilisten zu verletzen, greifen aber trotzdem zum Instrument des Mordanschlags. Gleichzeitig gelten aber alle Soldaten prinzipiell als böse, selbst die niedrigster Rangordnung. Wo hier mitunter der Unterschied zwischen Gut und Böse gemacht wird, ist mir manchmal schleierhaft geblieben. Dieser Unterschied ist jedoch in der Auflösung relevant.

Das Ende des Buches dagegen war für mich eine sehr überraschende Wendung, die mich tatsächlich noch hat schlucken lassen, und ist weder kitschig noch unrealistisch. Die Autorin betont auch im Nachwort, dass dieses Ereignis historisch belegt ist.

Alles in allem lässt sich meine Meinung so zusammenfassen: der Codex-Handlungsstrang ist eher überflüssig und meines Empfindens nach zu Dan-Brown-lastig, während der résistance-Handlungsstrang überzeugen und mitreißen konnte und meine Sympathien für den Widerstand gegen die Nazis wieder einmal geweckt hat. Daher von mir 4,5 Sterne.