Packender Frauenroman

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marionhh Avatar

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Im Jahr 342 nach Christus irrt ein junger Mönch durch das heutige Südfrankreich und versucht, einen wichtigen Codex zu verstecken. Er hat sich von seinem Abt und seinen Mitbrüdern losgesagt, um die in ihren Augen häretische Schrift vor der Verbrennung zu bewahren und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Dies gelingt ihm unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, und er verliebt sich in das Land und die Menschen und bleibt, bis eines Tages Invasoren auf der anderen Flussseite stehen.

Genau 1600 Jahre später, im Frankreich des Jahres 1942, lebt die 18jährige Waise Sandrine Vidal ein trotz des Krieges weitgehend behütetes Leben, obwohl sie ihren Vater, der im Krieg umkam, schmerzlich vermisst. Ihr Leben ändert sich grundlegend, als sie einen halbtoten Mann aus dem Wasser des Flusses zieht und dabei plötzlich überfallen wird. Als sie erwacht, ist der vermeintlich Sterbende verschwunden und ein junger Mann beugt sich über sie, flüchtet aber beim Nahen eines Motorengeräusches. Ihre Meldung bei der Polizei bleibt ungehört. Auch ihre Schwester Marianne verhält sich merkwürdig. Kurz darauf nimmt Marianne Sandrine zum ersten Mal zu einer Demonstration der Franzosen gegen das Regime mit, und von da an ändert sich alles. Sie erfährt mehr und mehr, was eigentlich im Land passiert, und sie sieht den jungen Mann wieder, Raoul, der ihr am Fluss geholfen hat. Auf der Demonstration kommt es schließlich zu einer Explosion, als dessen Drahtzieher Raoul beschuldigt wird, und er taucht ab in den Untergrund. Marianne nimmt Sandrine mit zu den Schwestern des Roten Kreuzes, und Sandrine sieht zum ersten Mal die Gräuel des Krieges und der Judendeportation von Angesicht zu Angesicht. Von da an engagiert sie sich zusammen mit ihrer Schwester und einigen Freunden im Widerstand. Unterstützt werden sie hierbei von Raoul und seinen Freunden aus dem Untergrund und verschiedenen Widerstandsgruppen.

Der Roman nimmt deutlich Fahrt auf, als Sandrine den Freiheitskämpfer Audric Baillard kennenlernt, also etwa ab Seite 360. Dieser erzählt ihr von dem uralten Codex und den Legenden des Roussillon, nach denen der Codex die Macht hat, ein Geisterheer herauf zu beschwören, so wie dies schon einmal vor langer Zeit geschehen ist. Baillard sucht den Codex, um mit seiner Hilfe die Nazis aus dem Land zu vertreiben. Doch nicht nur Baillard sucht das verschollene Dokument, auch der höchst gefährliche Kollaborateur Leo Authié sucht es für seinen Auftraggeber, den französischen Sammler de l'Oradore, und sein Mitarbeiter Laval hat ebenfalls ein eigenes Interesse an dem Codex.

Die Résistance im Süden formiert sich und wird immer stärker, die einzelnen Gruppen arbeiten versteckt und trotzdem zusammen, und Sandrine und ihre Freundinnen formieren sich zu einer eigenen Gruppe namens Citadelle. Eine Zeitlang bleiben die Widerstandskämpfer unentdeckt – bis eines Tages Audric Baillard aufgegriffen und ins Lager gesteckt wird, und auch Sandrine kann ihren Häschern bald nicht mehr entgehen…

Dichter, atmosphärischer und ungemein packender historischer Roman über eine junge Frau, die in den Gräueln des Krieges ihr Leben riskiert, um die deutschen Besatzer und deren Helfer zu vertreiben und Menschen zu retten. Es ist unglaublich, welche Wandlung die junge Sandrine durchmacht: Vom mehr oder weniger naiven jungen Ding zu einer willensstarken Anführerin der Widerstandsbewegung. Mutig, entschlossen, zäh und clever, dabei treu und loyal und zum Sterben bereit, solange es der Sache dient, und dennoch ganz zärtliche junge Frau, wenn sie bei Raoul ist. Mehr als einmal bringt sie sich in Gefahr, doch sie versucht immer, andere zu schützen. Nur in kurzen Phasen erlaubt sie sich Momente der Schwäche, erinnert sich sehnsüchtig an vergangene, glückliche Tage, nur um dann umso verbissener weiterzumachen in der Hoffnung, vielleicht doch zusammen mit Raoul in eine besser Zukunft starten zu können. Sehr schön in dem Zusammenhang finde ich die Buchtitel gewählt, sowohl den des englischen Originals, Citadel, ein direkter Bezug sowohl zu Sandrines Widerstandsgruppe als auch zur Stadt Carcassonne und ihrer Festung, als auch den deutschen als Erinnerung an die zahllosen Widerstandskämpferinnen im besetzten Frankreich und die namenlosen Toten.

Das Buch kommt sehr edel mit tollem Einband und Cover sowie mit einer Karte des Langedoc in vorderem und hinterem Deckel und einer Karte der Stadt Carcassonne gleich vor dem Prolog daher. Der Roman ist in drei Teile, einen Prolog und einen Epilog untergliedert, wobei der Prolog den Schluss teilweise vorweg nimmt und der Epilog einen großen Schritt in die Zukunft macht. Teil 1 und 2 gehen mehr oder weniger nahtlos ineinander über, wohingegen der Übergang zu Teil 3 eine Zeitspanne von zwei Jahren überbrückt. Außerdem liefert die Autorin die Erklärung ihrer Inspiration sowie eine Bibliografie der verwendeten Literatur. Der Schreibstil ist nicht gerade simpel, aber gut und flüssig zu lesen. Wer ein bisschen Französisch kann, ist klar im Vorteil, nicht alle französischen Passagen werden in der Geschichte übersetzt, und einen Anhang dazu gibt es nicht. Die Autorin scheint generell ein Faible hierfür zu haben, viele französische Wendungen gab es auch in Das verlorene Labyrinth und in Die achte Karte.

Sandrine ist meines Erachtens der interessanteste Charakter des Romans, durch ihren Wandel als Person und ihre Charakterstärke, sie ist der absolute Sympathieträger, aber auch die anderen Protagonisten sind bis in die kleinste „Nebenrolle“ perfekt und authentisch ausgearbeitet. Jede Figur hat ihren eigenen Eigenheiten, und aufgrund der vielen unterschiedlichen Erzählperspektiven erhält der Leser sehr tiefe Einblicke in die Motive des Einzelnen. Ein würdiger Gegenspieler zu Sandrine ist der skrupellose Authié, ein gläubiger Christ, der von sich und seinen Motiven überzeugt ist und fest glaubt, das Richtige zu tun. Ihm geht es nicht um Geld, er will den Codex finden und vernichten, sieht er in ihm doch eine häretische Schrift, die vernichtet werden muss. Trotz seiner Gläubigkeit ist er skrupellos und schreckt auch vor Folter und Mord nicht zurück, als seine Rechtfertigung dient der rächende Gott des alten Testaments. Als sein Gegenpart hat Sandrine ihren Glauben an Gott verloren. Trotz oder gerade wegen der schrecklichen Realität, in der sie lebt, glaubt sie jedoch Audric Baillards Geschichten an ein mysteriöses Geisterheer und die Möglichkeit, dadurch Befreiung zu erlangen.

Eine etwas geheimnisvolle Figur ist die des Audric Baillard, der anscheinend schon mehrere hundert Jahre gelebt und daher auch die grausame Verfolgung der Katharer miterlebt hat. Er ist ein gläubiger Mensch, aber nicht in rein christlichem Sinne, sondern er glaubt vielmehr an die Legenden Okzitaniens und an die Macht des Codex, mit dessen Hilfe er ein Geisterheer heraufbeschwören und so die Nazis aus seiner Heimat vertreiben will. Wie er selbst sagt, hat er geschworen den Kampf gegen das Böse nie aufzugeben und der Wahrheit zu dienen, das Land vor Invasoren zu bewahren bzw. diese zu vertreiben, auch wenn er seit Generationen die verliert, die er liebt (Seite 695). Meines Erachtens wäre es für die Spannung nicht nötig gewesen, ihn als eine Art unsterblichen Magier dazustellen, sein Charisma und seine Überzeugungskraft hätten ihn auch so zu einem faszinierenden Charakter gemacht. Nichtsdestotrotz werden sich alle eifrigen Labyrinth- und Die achte Karte-Leser freuen, ihn und auch andere bekannte Figuren wieder zu treffen.

Doch der Roman lebt nicht nur von den vielschichtigen Charakteren, sondern lässt auch sehr lebendig die Zeit des zweiten Weltkrieges im besetzten Frankreich auferstehen. Die Autorin beschreibt alles sehr anschaulich und bildhaft, man fühlt die Schmerzen der Gefolterten, fühlt ihre Ängste, hört die Schreie und riecht den Pulverdampf der Explosionen. Die Stimmung wird ab dem dritten Teil düsterer, wenn Sandrine immer gefährlichere Manöver unternimmt, immer mehr Freunde und Bekannte deportiert werden und immer mehr Franzosen ihre Landsleute denunzieren. Der Leser verfolgt zeitweise wirklich atemlos den Fortgang der Geschichte, und durch die häufigen Perspektivwechsel baut die Autorin mehr und mehr Spannung auf. Die Geschichte der zweiten Zeitebene ist gut erkennbar, da die Kapitel immer die Überschrift „Codex“ tragen und eine andere – römische – Zählung haben. Auch wenn die Geschichte spannend ist und einiges in Sandrines Geschichte schlüssig macht , habe ich trotzdem den Eindruck, dass diese eher als Erklärung und Unterstützung der Hauptgeschichte um Sandrine gedacht ist.

Fazit: Kate Mosse ist einmal mehr ein wunderbarer, sehr fesselnder Roman gelungen, der, wenn auch einigermaßen komplex und verschachtelt, sehr gelungen mehrere Erzählstränge zu einem großen Ganzen verwebt. Der Schluss ist einigermaßen tragisch und nichts für Liebhaber des Happy Ends, aber dennoch schlüssig. Einziger Wermutstropfen ist meines Erachtens das Mystische um Baillard und sein Geisterheer – das ist mir einfach zu fantastisch, um glaubhaft zu sein. Nicht nur die Stadt Carcassonne hat es der Autorin angetan, man trifft auf einige bekannte Namen wie Audric Baillard, Trencavel, Paul Authié und Pelletier aus den Vorgängerromanen wieder. Die Protagonisten in allen drei Büchern erleben Gewalt, Krieg und Verfolgung, leben aber auch in Zeiten des Umbruchs und schreiben auf die eine oder andere Art und Weise an der Geschichte ihres Landes mit. Der Abschluss der Languedoc-Trilogie und daher ein Muss für alle, die Das verlorene Labyrinth und Die achte Karte gelesen haben!