Nicht nur Frauenschicksale

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matheelfe Avatar

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„...Du solltest dich in der Welt behaupten. Was hältst du davon, selbst eine Familie zu gründen? Kommas und Absätze werden dich nachts nicht wärmen...“

Wir schreiben das Jahr 1925. Ishbel Christina Camberwell, genannt Blue, feiert auf Richmond Castle in England ihren 21. Geburtstag. Die Klatschpresse interessiert in erster Linie, wer Blues zukünftiger Ehemann wird. Doch die junge Frau hat andere Ambitionen. Sie möchte Schriftstellerin werden. Wie das Eingangszitat zeigt, ist nicht jeder überzeugt, dass dies eine gute Idee ist.
Nachdem genügend Alkohol geflossen ist, hält Kenneth, Blues Vater, eine Rede. Er verkündet, dass sich jeder junge Man im kommenden Jahr um Blue bewerben kann,
wenn er es schafft, ihr einen Brief zu schreiben und sie zu inspirieren. Er ahnt nicht, was er damit auslöst.
Die Autorin hat einen vielseitigen historischen Gesellschaftsroman geschrieben. Sie gewährt mir tiefe Einblicke in Blues Familienstruktur und bindet gleichzeitig gesellschaftliche Ereignisse mit ein.
Das eine Jahr, dass ich Blue begleiten darf, ist gespickt mit brisanten Ereignisse. Das geht schon damit los, dass Blue bei einem Ausflug auf eine junge Frau trifft und diese nach einem Missgeschick zu sich einlädt. Delphine ist vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen. Außerdem eröffnet sich für Blue kurzfristig eine berufliche Perspektive. Und dann wird ein lang gehütetes Geheimnis offenbar, dass die Familie ein schweres Fahrwasser stürzt.
Der Schriftstil lässt sich gut gelesen. Er ist gehoben und detailgenau. Für die Darstellung der Natur verwendet die Autorin treffende Metapher:

„...In den Hecken leuchteten Beeren in dichten Trauben, über dem grünen seidigen Wasser schwebte Nebel wie hauchzarter Chiffon, so bleich wie Mistelbeeren…“

Allerdings fehlt mir ab und an etwas Spannung im Geschehen. Die komplexen Beziehungen zwischen den Protagonisten machen dies nicht immer wett.
Positiv möchte ich hervorheben, dass mir die Autorin einen tiefen Blick in die Psyche ihrer Protagonisten gewährt. Gerade Kenneth ist ein komplizierter Charakter. Er gehört zwar zur begüterten Schicht, hat sich aber seine soziale Ader bewahrt. Dabei ging sein Leben schon durch manche Tiefen. Deutlich wird an vielen Stellen, dass die Männer gezeichnet sind von dem Erleben des Ersten Weltkriegs.
Ab und an werden fast philosophische Gedanken eingeflochten.

„...Wenn wir nie an uns zweifeln würden, […] würden wir nicht lernen, und wir würden nicht wachsen. Der Zweifel ist das Fundament wirklicher Stärke […], solange wir nicht zulassen, dass er uns beherrscht...“

Gut ausgearbeitete Gespräche ermöglichen mir, die Gedanken der Protagonisten nachvollziehen und verstehen zu können. Dabei ändert sich dr Schriftstil in Abhängigkeit von den redenden Personen. Sachlich, sarkastisch, humorvoll sind nur einige Worte, die darauf passen.
Insgesamt hat mir die Geschichte sehr gut gefallen.