Die geheime Sehnsucht der Bücher

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juma Avatar

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„Das Lavendelzimmer“ und „Das Bücherschiff des Monsieur Perdu“ bilden die Grundlage für den neuen Roman von Nina George. Ich habe leider erst mit dem dritten Buch angefangen, Monsieur Perdu kennenzulernen. Vielleicht wäre es doch hilfreich, zu wissen, was einen erwartet.

Die Idee der Literarischen Apotheke in der Ankündigung des Buches fand ich so berückend, dass ich unbedingt lesen wollte, was da auf dem Bücherschiff geschieht. Außerdem hat mir das Cover so gut gefallen, das müsste doch eigentlich ein tolles Buch sein. Hoffte ich. Nach mehr als der Hälfte des Romans dachte ich aber tatsächlich ans Aufgeben. Der Wortspiele – die zu Beginn recht witzig und einfallsreich waren – war ich langsam überdrüssig und die Handlung mäanderte hin und her. Anstatt eines Roten Fadens hatte ich wohl zu viele vor Augen. Aber wie das so ist mit dem Lesen, der Mensch ist eben auch neugierig. Wie würde das ausgehen, was hält die Autorin noch in der Hinterhand? Bücher konnten es kaum sein, derer gab es schon reichlich.

Und dann begann das Buch mich tatsächlich zu fesseln, das Rätsel um die junge Françoise und ihre Mutter wurde aufgelöst, Pauline würde vielleicht doch glücklich werden, Perdu ist und bleibt der Mann fürs „Psychologische“… Ich will nichts verraten, nur so viel, dass es mir am Ende doch Freude gemacht hat, dieses Buch.

Lässt Nina George auf Seite 303 so etwas Selbstkritik durchscheinen? Zitat: „Na ja, sie musste halt dreihundert Seiten vollkriegen, der Druck ist sonst im Verhältnis so teuer.“ Aber man kann es bekanntlich nicht jedem recht machen, so sind es halt über 330 Seiten geworden. Mir hätten vielleicht 250 gereicht.

Einige Details haben mich sehr beschäftigt, z. B. die Sorge der zwölfjährigen Françoise um ihre Mutter. Das Geschilderte ist kein Hirngespinst, ich habe während meiner Berufstätigkeit den Verein Young Carers kennen gelernt, der sich explizit um pflegende Kinder kümmerte, ihnen Beistand und Hilfe gab, Freizeiten und Ferienlager organisierte. Das funktioniert aber nur, wenn die Umgebung überhaupt etwas mitbekommt von der familiären Katastrophe. Diesen Teil des Romans empfand ich als sehr gelungen, den Zwiespalt, die Angst, die Scham des Kindes zum Thema zu machen. Die Literarische Apotheke von Perdu passt jedenfalls hervorragend dazu.

Auch Pauline ist als „Azubine“ von Perdu mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Insbesondere ihr Äußeres macht ihr zu schaffen, denn jeder, der sie ansieht, sieht ihre arabischen Wurzeln. In Frankreich sind Vorurteile gegen die Eingewanderten offensichtlich nicht selten, was vielleicht auch aus der relativ hohen Prozentzahl der dort lebenden Einwohner mit Migrationshintergrund und der französischen Geschichte resultiert. Dass und wie sich das nicht nur im Alltag, sondern auch in der Liebe widerspiegelt, kann man bei Paulines Geschichte gut nachvollziehen.

Dieses Zitat von S. 320 muss ich noch hinzufügen: „Wie konnte das denn sein, dachte Françoise, so lange nicht miteinander zu reden. In Geschichten war das so, aber auch im Leben?“ — Und ich beantworte die Frage gleich selbst: ja, das Leben schreibt noch viel schrägere Romane. 46 Jahre Schweigen waren bei mir echt, ich kenne keinen Roman, der das übertroffen hat. Deshalb finde ich dieses Buch mit seinen vielen ausgedachten Unwahrscheinlichkeiten auch gar nicht so besonders unwahrscheinlich.

Alle Protagonisten waren recht intensiv, einfach starke Charaktere, haben sich aber aus meiner Sicht gegenseitig ein bisschen ausgebootet. Perdu ist für mich der mit den tollsten Ideen, aber sein leises Charisma reicht nicht für meine Nummer Eins. Zuerst war es Françoise, die ich am meisten liebte, nun, zum Schluss ist es eher Pauline.

Das zukunftsfrohe Ende und „Die Wälder der Zeit“ sind emotionale Höhepunkte dieses Romans. Schön!

Fazit: Ehrliche Leseempfehlung, ein bisschen Geduld und viel Freude an sprachlicher Akrobatik und „Metapherstreubomben“ setze ich voraus.