Viel Zeitgeist und doch zeitlos

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gkw Avatar

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Silvesternacht 1972/1973 in der fiktiven Stadt Laustedt. Die Freundinnen Kat und Easy werden im nächsten Jahr 16 und es soll ein besonderes Jahr für sie werden. Sie haben sich einiges vorgenommen, wollen viele neue Erfahrungen machen. So wird es dann auch, es gibt viele erste Male: Alkoholrausch, Kiffen und weitere Drogenexperimente, erste Liebe, erster Sex. Es beginnt verheißungsvoll, doch dann verlieben sie sich in denselben Mann und sind nicht mehr ehrlich zueinander. Am Ende des Sommers gibt es einen tragischen Unfall und ihre Wege trennen sich.
2019. Kat betreibt einen erfolgreichen Blog, hier nimmt Easy Kontakt zu ihr auf, sie möchte sie gerne sehen. Sie treffen sich in Easys Haus auf Kreta. Sie reden - zunächst ausweichend - , sie feiern, sie blicken zurück, sie kommen sich wieder näher. Und dann wird Schritt für Schritt aufgedeckt, was eigentlich damals passierte.
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Die beiden Freundinnen sind sehr unterschiedlich. Kat ist cool und lässig, stets kritisch und scheinbar auch sehr mutig. Zu ihrem Ärger ist sie aber auch leicht übergewichtig und kurzsichtig. Leider muss sie feststellen, dass sie -als es für sie darauf ankommt - eben doch nicht die Macht hat, die Dinge so werden zu lassen, wie sie es möchte.
Easy ist schön und unbekümmert, der Name passt zu der Leichtigkeit, mit der sie das Leben zu nehmen scheint.
Beide haben in Teilbereichen das Gefühl, hinter der Freundin zurückzustehen. Easy akzeptiert das als gegeben, bei Kat gibt es Neid und Eifersucht, obwohl sie darüber stehen möchte. Die Verhaltensmuster der Jugend sind auch in der Gegenwart nach 50 Jahren in vielen Aspekten noch vorhanden.
Sie haben einiges aufzuarbeiten miteinander, jede hat andere Erinnerungen an die gemeinsame Zeit und dann gibt es noch etliche Lügen oder voreinander verheimlichte Erlebnisse, und das alles soll nun vielleicht ans Tageslicht.
Der Roman wechselt mit jedem Kapitel zwischen den Zeiten, einmal sind wir 1973 in Laustedt, dann 2019 auf Kreta. Die Abschnitte in Laustedt schildert ein Erzähler im Präsenz, der aber stets bei Kat ist. Die aktuelle Abschnitte aus Kreta werden von Kat erzählt, allerdings in der Vergangenheitsform. Passend zum Alter und der jeweiligen Situation ist das Erzähltempo bei den Jugendlichen schneller und ungeduldiger, bei der aktuellen Zeitebene ist es ruhiger.

Das Lebensgefühl der 70er Jahre und was Jugendlichen dieser Zeit wichtig war, ist aus meiner Sicht gut wiedergegeben. Das Buch handelt von Freundschaft, Liebe und Eifersucht, vom Schein und Sein, von Schuldgefühlen und Verzeihung. Und es geht darum, wie weit unsere Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, warum wir so sind, wie wir sind, warum wir tun, was wir tun.

Insbesondere für die annähernd Gleichaltrigen ist der Roman eine tolle Reise zurück in die Vergangenheit. Aber natürlich ist auch vieles zeitlos und somit für alle interessant.
Das Kämpfen mit Gefühlen (auch negativen) hat überhaupt nichts mit der Epoche zu tun, ebenso wenig die Verletzlichkeit, insbesondere in der Jugend. Und auch in den Freundschaften des "wirklichen Lebens" gibt es nicht in allen Aspekten ein vollständiges Gleichgewicht.


In einigen Besprechungen zu diesem Buch wird bemängelt, dass Kat, Easy und ihre Freunde so häufig trinken und kiffen und dies seitens der Erzählerin nicht kritischer hinterfragt wird .
Dem schließe ich mich nicht an. Für mich ist die Zeit und die Atmosphäre gut getroffen, in meiner Welt war das so. Kat und Easy sind authentisch für viele, die ich kannte und ich erkenne auch viele eigene Gedanken und Erlebnisse. Wie in jeder Generation hat es verschiedene Gruppen gegeben, hier ist halt von dieser Sorte Jugendlicher die Rede, über andere kann man andere Bücher lesen oder schreiben.

Ich empfehle das Buch ohne Einschränkung, aber insbesondere für alle, die zwischen 1955 und 1960 geboren sind, außer vielleicht, wenn sie Sport und Physik mochten.