Meine, deine, unsere Wahrheit?

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Eulabee und Maria Fabiola sind beste Freundinnen, und sie machen genau das, was viele Mädchen mit 13 Jahren in Sea Cliff so tun: Sie springen über die Klippen, verbringen Zeit am Strand, quatschen über Jungs. Besonders Maria Fabiola ist aufgrund ihrer ganz besonderen Aura und Schönheit, die sie umgibt, immer wieder im Zentrum des Interesses aller. Doch dann kommt ein Tag, der alles verändert: Ein Mann in einem Auto fragt die Mädchen nach der Uhrzeit. Maria Fabiola behauptet: Der hat sich angefasst, während er mit uns gesprochen hat. Eulabee hat davon nichts mitbekommen, ist sicher, dass diese Aussage ihrer besten Freundin nicht stimmt. Von diesem Moment an driften die Leben der beiden Mädchen auseinander; immer mehr Geschichten, Mythen, vermeintliche (Halb-)Wahrheiten ranken sich um Maria Fabiola, und Eulabee gerät ins Abseits, während ihre einstmals beste Freundin zur Ikone wird. Doch was ist denn nun die Wahrheit? Lässt sich diese überhaupt noch herausfinden?

„‘Ich zitiere‘. ‚Du solltest deine Quellen angeben‘, sagt er. ‚Alle sollten ihre Quellen angeben‘, sage ich und gehe“ (S. 197)

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht – so heißt eine bekannte Redewendung. Doch wenn Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, fällt die Glaubwürdigkeit zunehmend schwer. Um diesen Topos dreht sich Vendela Vidas Roman „Die Gezeiten gehören uns“, eine typische Coming-of-Age-Geschichte, die im besseren Milieu San Franciscos angesiedelt ist. Eulabee und Maria Fabiola repräsentieren zwei Typen an Mädchen, die durch ihre Freundschaft verbunden sind, sich aber über ihre Unterschiede definieren.

Vendela Vida kreiert in ihrem Roman eine Atmosphäre von Jugendlichkeit, von Frische und Aufbruchstimmung. Die Mädchenschule wird dabei zum Zentrum, um das die gesamte Erzählung kreist, ein Ort des Hörensagens, der Geheimnisse und Ränkespiele. Eulabee, die sich durch ihre Bildung auszeichnet, ihre Belesenheit und Cleverness, ist Teil einer Mädchengruppe, die ihr intellektuell eigentlich nicht das Wasser reichen kann, in der sie sich aber dennoch wohl fühlt. Bis zu dem Moment, der ihr die Augen öffnet! Dieser Augenöffner wird behutsam in die Erzählung eingearbeitet, kommt ganz unvorhergesehen auf das Tableau und ändert doch abrupt das Flair. Vida hat sich für einen recht gefälligen Ton entschieden, erzählt aus der Perspektive Eulabees mit eher einfachen, glaubhaften, aber glatten Worten. Gleichzeitig rückten die Probleme der jugendlichen Mädchen nie so richtig nah an mich als Leser heran, schaute ich doch permanent aus einer eher übergeordneten Perspektive auf das Geschehen. In kleinen Wellen baute sich immer wieder ein Stück weit Spannung durch die neuen Vorkommnisse auf, doch flachten die Wogen auch schnell wieder ab, versandeten in eher seichten Gewässern.

„Die Gezeiten gehören uns“ hat im Grunde all das, was man von einer gut komponierten Coming-of-Age-Story erwartet: Authentische Charaktere an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein, durch Spannung angetriebene Plot Twists, einen Ausblick in eine Zukunft nach der Jugend. Auch das multikulturelle Umfeld – Eulabees Mutter ist beispielsweise Schwedin – gibt der ganzen Erzählung noch einmal eine besondere Note. Dennoch hinterlässt die Lektüre in meiner Wahrnehmung keinen wirklich prägenden Eindruck. Aber vielleicht muss sie das auch nicht. Manchmal reicht auch einfach eine nette, gut zu lesende Geschichte!