Lohnt sich

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heidersv Avatar

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Die Hafenärztin
Mit ihrem Kriminal- und Gesellschaftsroman „Die Hafenärztin“ hat Henrike Engel meiner Meinung nach einen Treffer gelandet. Es gelingt ihr, einerseits ein sehr plastisches, teils drastisches Sittengemälde Hamburgs vor dem ersten Weltkrieg zu malen und auf der anderen Seite eine spannende Kriminalgeschichte zu erzählen. Die drei Protagonistinnen, von denen einer ein Mann ist, laufen sich ständig über den Weg, manchmal zufällig, meistens aber beabsichtigt.
Da ist Dr. Anne Fitzpatrick, die allerdings gar nicht so heißt, eine Kämpferin für Frauenrechte und gleichzeitig engagierte Mitarbeiterin in Frauenhäusern in Hamburg. Auf sie hat es der Hafenmörder letztlich abgesehen. Dann gibt es Helene Curtius, eine höhere Tochter aus gutem Haus, die gegen die strengen Regeln des Vaters rebelliert. Sie will nicht schweigende, duldende Hausfrau und Mutter werden, wie es ihr vorgelebt wird. Sie versucht über Dr. Fitzpatrick in die Hamburger Frauenbewegung zu kommen.
Und es gibt den Kommissar Reydt, ein innerlich zerrissener Mann, der beauftragt wird, den bestialischen Mord an zwei Frauen im Hafen aufzuklären. Dafür ist er dem Polizeichef „gerade gut genug“. Da die Morde in unmittelbarer Umgebung des neu eröffneten Frauenhauses von Dr. Fitzpatrick geschehen und Helene zufällig die erste Leiche gefunden hat, überkreuzen sich die Wege dieser drei immer wieder.
Das richtig Gute an diesem Roman ist die Darstellung des Lebens der Menschen zu dieser Zeit, ihre Ideale, ihre Ängste, und insbesondere ihre teilweise erbärmlichen Lebensumstände. Hier wird so gut wie nichts ausgelassen, schuftende Arbeiter, junge Frauen, die ihren Körper verkaufen müssen, weil es sonst keine Einnahmen gibt, das Hausmädchen der Curtius, die scheinbar eine Freundin von Helene ist, aber tatsächlich nur ihr Trinkgeld braucht und nachts dem Vater zu Diensten sein muss, der Standesdünkel in der Fußballmannschaft, wo man -damals!- als Arbeiter oder einfacher Mann nicht in die Mannschaft der FC St. Pauli kam und noch so vieles mehr. Es lohnt sich zu lesen.
Der einzige Wermutstropfen ist, dass irgendwann, so ca. 30-50 Seiten vor Schluss die Autorin gemerkt hat, dass ihr über lauter Sittengemälde und Gesellschaftsbeschreibung die Auflösung der Mordfälle aus dem Blick geraten ist. Holterdiepolter wird schnell ein dramatischer Schlussplot entworfen, so ganz im Gegensatz zu der vorher so ruhig ausgebreiteten Geschichte steht. Das hätte sie auch langsamer angehen und etwas früher beginnen können. Dennoch alle 5 Sterne.