Hard Knock Life

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herr_stiller Avatar

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Norwegen im 19. Jahrhundert. Das Leben der Menschen im Nordwesten ist karg. Das Erntewetter entscheidet, wie gut sie über den Winter kommen. Der Napoleonische Krieg reißt Familien auseinander und prägt die überlebenden Soldaten bis zum Tod. Kinder kommen ohne Geburtshilfe zur Welt, nicht alle schaffen es, auch nicht alle Mütter. Doch es gibt Hoffnung. Hebammenschulen in Molde und Oslo, das damals noch Christiania hieß. Und junge Frauen, die diesen Beruf erlernen wollen – gegen alle Widrigkeiten.

Edvard Hoem zeichnet in „Die Hebamme“ das Leben seiner Ururgroßmutter nach. Einträge in Staats- und Reichsarchiven, in Kirchen- und Amtsbüchern sind die Grundlage des Romans, der mehr eine Chronik von Nesjestrand und dem Leben von Marta Kristine Andersdotter Flovik ist, eine fiktionale Geschichte anhand von echten Geschehnissen und Menschen, von denen, so schreibt Hoem selbst, niemand mehr weiß, wer sie waren.

Marta Kristine, auch Stina genannt, wuchs als Tochter der Dorfschuhmachers auf. Sie hatte ein enges Vertrauensverhältnis zum örtlichen Pfarrer, der immer ein offenes Ohr für sie hatte, auch, als sie unverheiratet schwanger wird, von einem Mann, der nicht der ist, den sie liebt. Der Pfarrer ist es, der sie auf die Hebammenschule aufmerksam macht, ihr ein Lehrbuch bestellt und ihr eine Ausbildung bei der Hebammenschule im nahen Molde verschafft.

Den Mann, den sie liebt, ihr alter Schulfreund Hans, lässt sie erst zappeln, bereut es dann, flüchtet sich in den Gedanken, dass dieser sie aufgegeben habe, und heiratet ihn dann doch, als dieser gebrochen, aber gesund aus dem Krieg zurückkehrt und seinen Antrag erneuert, den er ihr schon zu Schulzeiten gab. Sie bekommen Kinder, sie ziehen in ein größeres Haus, doch sie werden immer wieder von Schicksalsschlägen erwischt. Zwei ihrer Kinder sterben viel zu früh. Hans macht mehr und mehr Schulden. Der Schatten des Krieges wird ihn nie verlassen.

Und die Menschen in der Region, die verpflichtet sind, eine Hebamme zur Geburt zu bestellen, begehren dagegen auf und sehen in Stina keine richtige Hebamme, sie habe nicht die richtige Schule in Christiania besucht. Also macht sie sich auf, trotz der Kinder zuhause, um die sich Hans und ihre älteste Tochter kümmern, und zieht zu Fuß 600 Kilometer von Nesjestrand in die Hauptstadt, um die Ausbildung zu erhalten, die ihr Respekt und Einkommen bringen soll.

„Die Hebamme“ ist ein eindrucksvoller, aber auch schwermütiger Einblick in das Norwegen im 19. Jahrhundert, in das Leben und in das Leid seiner Familien. Hochemotional in seinen besten Momenten, aber leider zu oft auch zu nüchtern, zu sehr Chronik als Roman, zu oft mit kurzen Anekdoten gespickt, zu sehr mit Blick von außen als mit Fokus auf das Innere seiner Figuren.

Aber das Buch ist auch ein interessantes Portrait der Frauen dieser Zeit, besonders der Marta Kristine Andersdotter Flovik, der Hebammen-Stina, die 150 Jahre nach ihrem Tod ein würdiges literarisches Denkmal gesetzt bekommt. Von ihrem Ururenkel, den ihre Geschichte nicht los ließ, der nur wusste, was sein Vater ihm erzählen konnte: „Deine Ururgroßmutter, Marta Kristine«, sagte Vater, »ist nach Christiania gegangen, um Hebamme zu werden [...] dann ist sie wieder nach Hause gegangen und nicht weniger als fünfzig Jahre lang Hebamme gewesen.“