Kongeniales Denkmal für eine starke Frau

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„Deine Ururgroßmutter, Marta Kristine«, sagte Vater, »ist nach Christiania gegangen, um Hebamme zu werden [...] dann ist sie wieder nach Hause gegangen und nicht weniger als fünfzig Jahre lang Hebamme gewesen.“

Das war alles, was Edvard Hoem über seine Ururgroßmutter Marta Kristina Andersdatter Nesje wusste, als er für seinen Roman zu recherchieren begann. Als faktische Grundlage nutzte er Einträge in Staats- und Reichsarchiven, in Kirchen- und Amtsbüchern. Die Lücken musste die Fantasie schließen. Das ist dem Autor kongenial gelungen.

Sein Roman führt uns ins nordwestliche Norwegen am Ende des 19. Jahrhunderts. Stina ist 7 Jahre alt, als die Familie an die andere Seite des Romsdalsfjorden zieht. Während dieser kurzen Seereise hat sie ein Schlüsselerlebnis, das ihr später den Anstoß geben wird, Hebamme zu werden.
Die Geschichte, die Hoem aus dem kargen Material spinnt, lässt uns am Leben der Häusler teilhaben - Menschen ohne Grundeigentum, die ein Häuschen von einem Grundherrn pachten, dem sie zusätzlich Frondienste leisten müssen. Sie sind bitterarm - aber die Ansprüche sind bescheiden, und so ist Stinas Familie mit dem Leben am Flovikstrand zufrieden, denn „Sie litten keine Not.“

Über Hindernisse finden Stina und ihre Jugendliebe Hans zueinander, sie absolviert die ersehnte Ausbildung als Hebamme – das Happy End scheint programmiert. Aber immer, wenn es von nun an eigentlich glatt laufen müsste, gibt es neue Herausforderungen zu meistern. Die sozialen Unterschiede in dieser Zeit waren groß und nahezu unüberwindbar. Umso ungewöhnlicher ist es, was das Häuslerkind Stina zuwege bringt. Dafür muss sie oft schwere Entscheidungen treffen. Hoem schildert uns Stina als geradlinige, tatkräftige Frau, die … „niemals irgendjemand in der Hand haben“ wird.

Hoems knapper Stil zeichnet mit sicherem Strich Figuren, Land und Leute. Er schildert die Gebräuche, das Dorfleben, die Konflikte untereinander. Seine Sprache ist feinfühlig, oft fast lyrisch, niemals sentimental. Sein Fokus liegt dabei auf dem gefährlichen Leben der Frauen – so mancher Mann in dieser Zeit war schon zum zweiten oder dritten Mal verwitwet, weil die Frauen im Kindbett gestorben waren. Seine Ahnin hat mit ihrem Engagement dazu beigetragen, die Kinder- und Frauensterblichkeit ihrer Zeit zu senken.

Mit diesem Text hat Hoem ihr ein würdiges Denkmal gesetzt. Ich bin in den Roman regelrecht eingetaucht und habe mich dabei ins 19. Jahrhundert zurück versetzt gefühlt - was für ein Kontrast zu heute! „Die Hebamme“ ist nichts weniger als eine ungemein horizonterweiternde Zeitreise. Uneingeschränkte Empfehlung!