Toller Roman über eine starke Frau

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sleepwalker1303 Avatar

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Edvard Hoem ist in Norwegen ist er ein vielfach preisgekrönter Bestseller-Autor, in Deutschland ist er nicht wirklich bekannt. Ich habe mich auf seinen Roman „Die Hebamme“ sehr gefreut, denn er schreibt über zwei Themen, die ich sehr gerne mag: Norwegen und Geschichte. Die Hauptperson ist Marta Kristine Andersdatter Nesje, die Ururgroßmutter des Autors. Zum ersten Mal befasste er sich mit ihrer Geschichte schon 2008 zum 100jährigen Bestehen der norwegischen Hebammenvereinigung, denn Marta Kristine, genannt Stina, war über 50 Jahre lang Hebamme und half über 1000 Kindern auf die Welt, sie selbst bekam elf Kinder. Es ist ein Buch über eine starke, unangepasste Frau, aber keineswegs ein „Frauenbuch“.
„Ich weiß nicht, was aus ihr werden soll“, erwiderte der Vater, „sie sagt, sie wäre lieber ein Kerl geworden als ein Frauenzimmer.“ – dieser Satz charakterisiert Stina sehr gut, gegen Ende des Buchs trägt sie unter ihrem Rock tatsächlich Hosen! Sie konnte zupacken und hart arbeiten, war fleißig, ausdauernd und hatte immer ihren eigenen Kopf. Und das war in den harten Zeiten, in denen sie lebte, überlebenswichtig. Die napoleonischen Kriege gingen auch an Norwegen nicht spurlos vorbei, vor allem die britischen Marineblockaden waren der Grund für große Not in der Bevölkerung. Als Tochter eines Schuhmachers und Schlachters hatte Stina wenige Chancen, etwas aus sich zu machen. Heiraten, ein paar Felder bewirtschaften und Kinder bekommen – so hätte ihr Leben am ehesten aussehen können. In gewisser Weise sah es auch so aus, aber der zupackenden Stina war das nicht genug. Der Pfarrer erwähnte einmal die Hebammenausbildung und diese Idee ließ sie nicht mehr los. Schon zu Schulzeiten verliebte sie sich in Hans, einen drei Jahre älteren Mitschüler. Und auch er war ihr zugetan, über Umwege kamen sie zusammen, obwohl sie ein uneheliches Kind mit in die Ehe brachte.
1817 ging sie als 24Jährige nach Molde, um die Geburtshilfe in einem sechswöchigen Kurs zu lernen. Aber Hebammen waren zu der Zeit nicht gut angesehen, viele werdende Mütter sparten sich lieber die Hebammen-Gebühren. Daher beschloss Stina 1821, die fast 600 Kilometer nach Christiania (das war bis 1924 der Name des heutigen Oslo) zu Fuß zu gehen, um sich dort ein Jahr lang „richtig“ zur Hebamme ausbilden zu lassen. Nach dem Ende der Ausbildung ging sie zurück und arbeitete fast 50 Jahre lang weiter. So viel ist Fakt, die wenigen Aufzeichnungen aus der Zeit stammen hauptsächlich aus Kirchenbüchern.
Daher ist das Buch ein fiktiver Roman auf der Grundlage dokumentierter Fakten. Aber eben diese fiktive Ausgestaltung macht den Roman so besonders. Aus den Fakten, die so karg sind wie das Land, in der die Geschichte spielt, strickt der Autor eine packende und lebendige Erzählung über eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Allerdings hatte sie wohl immer den Rückhalt ihrer Familie, Eltern und Mann legen ihr (zumindest in der Geschichte) keine Steine in den Weg zum Glück. Schicksalsschläge wie Tod, Not und Schulden werden in der für die Zeit und die Lebensumstände typischen Ruhe hingenommen, trotz des harten und arbeitsreichen Lebens scheint Stina zufrieden. Ob es so war, weiß keiner. Aber es hätte so sein können. Das Bild, das der Autor von Personen und Zeit zeichnet, ist glaubwürdig und realistisch.
Für mich war das Buch ein echtes Highlight, die deutsche Fassung ist der Übersetzerin hervorragend gelungen. Es ist eine dichte und packende Geschichte über Liebe, Familie, Hebammenberuf, Trauma, Not, Überlebenskampf, Mut und eine bemerkenswerte und starke Frau. Edvard Hoem baut seiner Urururgroßmutter ein Denkmal, verfällt aber nicht in Klischees oder Lobhudelei. Ich habe mir jetzt die anderen Teile seiner Familiensaga im Original besorgt, denn ich habe mich in seinen klaren, sachlichen und doch poetischen Stil verliebt. Für dieses Buch gibt es von mir ganz klar fünf Sterne.