Hervorragender historischer Roman mit starker Heldin

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marionhh Avatar

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Die Eifel, 1632: Die 17jährige Kaufmannstochter Sophie wird mit dem Freiherrn Marsilius von Wildenburg verheiratet, der jähzornig, gewalttätig und der schönen Hexe Edith verfallen ist. Edith trachtet Sophie nach dem Leben, und auch das Personal hat Angst vor Edith. Als Sophie schwanger wird, hoffen sie und ihr Ehemann auf einen Stammhalter. Sophie erkrankt jedoch nach einer Vergiftung schwer und findet ihre einzige Vertraute Gesche ermordet im Hexenturm. Nach einem weiteren Mordversuch von Edith kann sie fliehen und gebiert ihr Kind irgendwo draußen im Wald. Zufällig zu Hilfe kommt ihr Julius, Jurist und Hauslehrer von Heinrich von Elverfeldt vom Gut Herbede, der sich auf den Weg gemacht hat, um etwas über den mysteriösen Tod seines Schützlings zu erfahren. Der war zuletzt mit Marx von Mengersen zusammen gewesen, und man verdächtigt Marx, den Jungen ermordet und den Leichnam anschließend aus dem Grab geraubt zu haben.

Sophie und ihr Töchterchen Henriette finden Zuflucht bei ihren Eltern. Marsilius, in seiner Ehre gekränkt und von Sophies Mutter verständigt, will Sophie wieder haben, benimmt sich jedoch so verstörend, dass Sophies geschockte Mutter ihr bei der erneuten Flucht – diesmal ohne Henriette – hilft. Die ehemalige Kinderfrau, bei der Sophie Unterschlupf suchen soll, ist jedoch weggezogen, und als Sophie ziellos durch die Dörfer reitet und sie schließlich erfährt, dass ihre Tochter die Hexe Edith als Amme hat, beschließt sie, sich Henriette wiederzuholen. Ausgerechnet der gesuchte Mörder Marx von Mengersen, aufs Bitterste von ihrem Mann verfolgt, soll ihr dabei helfen.

Marx, ehemaliger Fechtlehrer Heinrichs und seines Cousins Conrads und Soldat im Heer Wallensteins, und seine Mannen, ehemalige Soldaten wie er und Ausgestoßene der Gesellschaft, schicken Sophie wider besseres Wissen nicht fort, sieht doch Marx seine Interessen und die Sophies miteinander verbunden: Er will herausfinden, warum Heinrich sterben musste und wer sein wahrer Mörder ist, so dass er selbst frei gesprochen werden kann. Zu diesem Zweck entführt er nicht nur den ortsansässigen Pfarrer Ambrosius und inszeniert seinen eigenen Tod, sondern auch Julius, der ebenfalls den Mord aufklären will. Fortan kreuzen sich die Wege der Protagonisten immer wieder, und Julius wird ebenfalls zu einem von Sophies Unterstützern. Sophie jedoch verliert nie ihr Ziel aus den Augen, ihre Tochter Henriette aus den Fängen der Hexe Edith zu befreien, und gerät dabei mehr als einmal in Lebensgefahr. Als sie einmal mehr in die Hände ihrer Widersacher, ihres Mannes und Ediths, gerät und nicht einmal Marx sie befreien kann, werden beide dem bereits todkranken Burgherren Marsilius zur Verurteilung vorgeführt. Auf dem Burghof kommt es zur Eskalation...

Opulenter, bildhaft-bunter und sehr mitreißender Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Helga Glaesener versteht es meisterhaft, ferne Zeiten aufleben zu lassen und Spannung aufzubauen. Ihre Charaktere sind vielschichtig und bis in die Nebenfiguren gut herausgearbeitet, und der historische Hintergrund wirkt authentisch. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wechselt die Erzählung häufig die Sichtweise, so erfährt der Leser nicht nur einiges aus der Sicht der Hauptfiguren, sondern auch die Erlebnisse und das Innenleben der Nebenfiguren wie Josepha, die, gequält und vor Angst wahnsinnig, zur Verräterin wird. Mitunter hätte ich mir zwar ein paar Zusatzinformationen gewünscht, wie z.B. ein Personenverzeichnis und/oder ein kurzer Abriss des geschichtlichen Hintergrundes, um einmal nachschlagen zu können, dies tut dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch und würde lediglich der Ergänzung und der Erläuterung dienen. Der Roman ist atmosphärisch dicht und komplex und trotzdem so flüssig und eingängig geschrieben, dass man ihn einfach nicht aus der Hand legen kann.

Das Leben der Kaufmannstochter Sophie wird bis zu ihrem 18. Lebensjahr von Männern bestimmt: Erst von ihrem Vater, der sie innig liebt, dann von ihrem Ehemann Marsilius, den ihr Vater für sie ausgesucht hat. Sophie ist eine graue Maus, unscheinbar, klein und ohne weibliche Formen, mit einem kantigen Kinn. Vom Kriege hat sie bislang wenig mitbekommen, ebenso wenig von der Welt. Eigentlich wünscht sie sich auch nur ein ruhiges Leben an der Seite ihres Mannes. Eine Zeit lang versucht sie auch noch, ihm zu gefallen, doch Marsilius ist jähzornig, schlägt sie und wird von Edith beherrscht, die es immer wieder schafft, sich bei ihm einzuschmeicheln, Sophie schlecht zu machen und auch das Personal zu kontrollieren. Die Sache eskaliert, als Edith sie mit Hilfe ihrer Komplizin Eva zu vergiften versucht und Sophie aus der Burg flüchtet. Die erste Entscheidung, die Sophie eigenständig trifft, ist die, mit Hilfe von Marx, der als Leichendieb verurteilt ist, gegen Edith vorzugehen, die sie für eine Hexe hält. Damit erklärt sich auch der Titel des Buches: Der Leichendieb und die Hexe sind die Personen, die maßgeblich Sophies Handeln bestimmen.

Im Laufe ihrer Zeit bei Marx lernt Sophie, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und will dies fortan auch nicht mehr missen. Sie ist ein starker Charakter, der immerfort an sich, ihren Gefühlen und ihren Entscheidungen zweifelt. Durch ihre Zierlichkeit weckt sie Beschützerinstinkte, vor allem bei Julius, doch in ihrem Wesen ist sie willensstärker als die Männer. So nutzt sie z.B. Julius´ Zuneigung aus, um ihr Ziel – die Rückgewinnung ihrer Tochter – zu erreichen. Aus welchen Motiven dies geschieht, ist allerdings unklar. Eigentlich bringt sie Henriette nicht die erhofften Muttergefühle entgegen, hat sie doch immer den verabscheuten Ehemann und die entsetzliche Hochzeitsnacht vor Augen. Doch die Tochter der verhassten Nebenbuhlerin zu überlassen, kommt nicht in Frage, hält sie doch Edith nachweislich für eine böse Hexe.

Überhaupt sind viele Handlungen in dem Roman geprägt von Aberglaube und Angst. In einer Zeit, in der ganze Landstriche durch Krieg, marodierende Söldner und Seuchen verwüstet werden, suchen die meist tiefgläubigen Menschen ein Ventil, und man kann sich die Gräuel oftmals nicht erklären. So muss eben das Übernatürliche herhalten, und es werden reihenweise Hexen verbrannt. So glaubt auch Sophie lange Zeit, dass Marx ein Werwolf und Wiedergänger ist, und ist auch davon überzeugt, Edith hexen gesehen zu haben. Einzig der Wissenschaftler Julius hat eine differenziertere Meinung hierzu. Die Schrecken des Krieges treten jedoch allenfalls in Nebenschauplätzen auf, z.B. in der traumatisierten Irmgard, bei der Sophie Unterschlupf findet, und in einer angeblichen Verschwörung der Jesuiten gegen Wallenstein. Letzteres jedoch erweist sich als Irrtum, und so kommt der im Roman enthaltene Kriminalfall, der Mord an Heinrich, zu einer recht überraschenden und ganz und gar nicht politischen Aufklärung und führt schließlich zu einem eher unerwarteten Drahtzieher. Eindeutig im Vordergrund stehen die Handlungen Sophies und ihre Interaktion mit anderen Personen, besonders mit Marx und Edith. Wunderbar und befriedigend ist die Lösung trotzdem, vor allem für Leser, die eine umfassende Lösung und ein gutes Ende bevorzugen. Besonders wohlwollend muss der menschliche Wandel Sophies betrachtet werden, sie wird von der grauen, unscheinbaren und fremdbestimmten Person zu einer willensstarken jungen Frau, die für ihre Ziele kämpft und ihre eigenen Entscheidungen trifft und schließlich ihr Glück findet.

Fazit: Ein rundum gelungener Roman mit einer starken Heldin, mitreißend und spannend, eine herrliche Mischung aus historischem Roman und Krimi, mit einer Prise Herz-Schmerz, ohne auf reißerische Motive wie ständige Vergewaltigungen oder Hinrichtungen angewiesen zu sein. Helga Glaeseners Stil ist einfach unverwechselbar, und ihre Romane sind immer lesenswert. Zum Eintauchen in fremde Welten und für alle Fans des Mittelalter-Romans dringend empfohlen!