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Inhalt
East Anglia, 1645. Die stumme Dienerin und Hebamme Martha Hallybread lebt wie viele Frauen der Ortschaft in Sorge. Denn die Hexenjäger sind gekommen und das letzte Kind, dem sie und Prissy auf die Welt geholfen haben, ist kurz darauf gestorben. Als die Häscher Prissy holen, erinnert sich die Endvierzigerin an die kleine Wachspuppe, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Mittels des kleinen Atzmannes können andere mit Flüchen belegt werden. Kurz darauf holt man Martha ins Gericht, sie soll die vermeintlichen Hexen auf Male untersuchen – alles Frauen, die sie kennt. Obwohl sie ihnen helfen will, muss sie hilflos mitansehen, wie man die anderen quält. Als die Situation sich zuspitzt, kann auch der Atzmann ihr nicht mehr helfen.


Meinung
Ein bedrückender Roman, der hervorragend recherchiert wurde; großartig geschrieben und sehr unterhaltsam. Dennoch ist es nicht einfach, den Inhalt treffend zu beschreiben. Einerseits ist alles an Klischee drin, was von einer Geschichte dieser Art erwartet werden darf. Andererseits macht das überhaupt nichts aus, weil Meyer viel von ihrem Handwerk versteht und es natürlich und fließend in ihre Erzählung einwebt. Die Atmosphäre ist greifbar, genau wie die Verwirrung einzelner Figuren, die nicht mehr sicher über Sein oder Nichtsein einer Hexe entscheiden können. Der Leser im Übrigen steht ihnen in nichts nach, weil sich am Ende alles so perfekt für Martha gefügt haben wird, dass wir nicht sicher sein können, ob nicht etwa doch etwas an ihr und ihrem Atzmann dran ist. Das halte ich für eine sehr geglückte Wendung, da es vermutlich von der Autorin so beabsichtig worden ist.
Zunächst einmal ist da aber Martha, Ende vierzig, schon früh auf den eigenen Beinen stehend, schließlich als Kindermädchen für Kit in Dienst genommen, der nun der Hausherr ist. Mit seiner Frau Agnes verträgt sich Martha nicht gut, was nicht nur daran liegt, dass Martha stumm ist und mit den Händen gestikuliert. Sie ist auch eifersüchtig, denn Kit liebt seine manchmal etwas herrische Frau, die weit mehr erwartet hat nach der Heirat als Cleftwater und sich weigert, Marthas Handsprache zu lernen. Prissy ist noch keine zwanzig, arbeitet als Köchin und lässt sich von Martha als Kräuterfrau und Hebamme ausbilden. Es erscheint zunächst seltsam, dass man sie abholt und eben gerade nicht Martha, unter deren Händen noch andere Kinder, meist missgestaltet, gestorben sind. Ihr guter Ruf trage dazu bei, will die Autorin dem Leser sagen, aber gezeigt wird es nicht. Sicherlich ist sie bekannt, da sie auch Verletzungen und anderes heilt. Aber sie wird von keinem bevorzugt oder besonders höflich behandelt. Wenn jemand aus ihrem Haus abgeholt würde, dann sicher nicht die anderen Frauen, sondern sie. Aber sie ist frei, fast bis zum Schluss.
Es fehlt nicht an dem älteren Witwer, der sie heiraten will, um nicht allein zu sein und den sie abweist, weil er kein netter Zeitgenosse ist. Und weil sie bei Kit bleiben möchte, auf den sie unverhältnismäßig fokussiert ist. Natürlich will sich der Abgewiesene rächen und da er im Umfeld der Hexenjäger agiert, fällt ihm das nicht schwer. Aber nie übertreibt es Meyer, stellt es zur Schau oder richtet den Zeigfinger aus. Es ist alles nur ein Teil einer größeren Geschichte.
Silas Makepeace kommt mit einer Gehilfin in die Gemeinschaft, die gut gekleidet ist und genau weiß, was zu tun ist und was von ihr erwartet wird. Routiniert unterweist sie auch die anderen Frauen, Martha und zwei weitere, die ebenfalls die zahlreichen Gefangenen auf Male untersuchen soll. Und jede Frau hat etwas, einen Leberfleck, ein Muttermal, was auch immer gerade gebraucht wird, bis hin zur Form der Schamlippen. Die Szenen rund um diese Tätigkeit sollten, gerade auch mit einer aus dem Feuer springenden und brennend die Wand hinauflaufenden Spinne, aufgesetzt und übertrieben wirken. Tun sie aber eben gerade nicht. Meyer schreibt routiniert und fesselnd.
Das Geschehen spitzt sich für die Frauen der Ortschaft gnadenlos zu. Niemand weiß, wer die Nächste ist. Schade fand ich, dass die ebenfalls zahlreichen Männer, die dem Wahn in der realen Welt zum Opfer gefallen sind, nicht erwähnt werden. Außer in Form des Paters, der versucht hat, sich für die Frauen einzusetzen.
Am Ende läuft alles zusammen: Krankheit, Geburt, Aberglauben, leichte Folter, wütendes Wetter. Das Urteil des Richters zu verstehen, fällt schwer, da alle anderen Frauen ohne Ausnahme gehängt worden sind. Aber der Atzmann tut bis zum Schluss sein Werk und Martha, die nicht von allen Leser gemocht werden wird, aber genau deswegen zum lebensechten Charakter mutiert, schöpft aus ihm ihre Kraft.
Es ist eine düstere, bedrückende Erzählung, die sehr direkt daherkommt. Kein typischer historischer Roman, sondern ein literarisch aufgearbeitetes Stück Geschichte, das mitreißt.