Zwischen Religion und Selbstbestimmung

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leukam Avatar

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Viele Jahre mussten die Leser warten, um endlich zu erfahren, wie es mit den Figuren aus „ Die Hochzeit der Chani Kaufman“ weitergegangen ist.
Chani und Baruch sind nach ihrer Hochzeit nach Jerusalem gezogen, wo Baruch für sein zukünftiges Dasein als Rabbiner den Talmud studiert. Ihr Glück wäre vollkommen, wenn Chani endlich schwanger würde. Doch bisher waren alle Versuche vergeblich. Nicht nur die Erwartungen von außen belasten Chani. Nein, ihre Ehe wäre ernsthaft in Gefahr, denn nach jüdischem Recht darf ein Mann die Trennung verlangen, wenn seine Frau ihm keine Kinder schenkt. „ Ein unverheiratetes Mädchen war wie ein ruderloses Schiff oder ein Topf ohne Deckel, doch eine unfruchtbare Frau war schlimmer. Ihr Mann konnte sie verstoßen. Er konnte sich neuen Weidegrund suchen.“
Deshalb reist das junge Paar nach London und lässt sich, finanziell unterstützt von Baruchs Eltern, in einer Fruchtbarkeitsklinik untersuchen. Die Ergebnisse sind einerseits beruhigend, denn es liegen keine organischen Gründe für die Kinderlosigkeit vor. Trotzdem stürzt der Befund das Paar in schwere Konflikte. Es sind die strengen jüdischen Gesetze, die einer Befruchtung im Wege stehen, denn diese regeln genau, wann ein Paar sexuell enthaltsam sein muss.
Baruch und Chani stehen somit vor einem riesigen Problem. Wie sollen sie Gottes Gesetz erfüllen, sich zu vermehren, wenn die Gebote das gleichzeitig unmöglich machen ?
Aber Chani ist nicht die einzige Frau, die sich zwischen religiösen Vorgaben und Selbstbestimmung entscheiden muss.
In einem zweiten Erzählstrang geht es um Rivka Zilbermann, die im ersten Buch als Rebezzin Chani auf die Ehe vorbereitet hat. Rivka hat mittlerweile ihren Mann Chaim verlassen, weil sie es in der streng reglementierten Welt der orthodoxen Gemeinde nicht mehr ausgehalten hat. Doch ihr Ausbruch hat schwerwiegende Konsequenzen. Ihr wird der Kontakt zu ihren Kindern verboten und ihr Mann übergibt ihr den „ Get“, den Scheidebrief. Seine Stellung als Rabbiner wäre nicht zu halten mit einer getrennt lebenden Frau. Doch das ist noch nicht alles. Der jüngere Sohn wird in der Schule wegen seiner abtrünnigen Mutter gemobbt, die Tochter will nichts mehr von ihr wissen. Rivka steckt „ zwischen zwei Welten fest und es zerreißt“ sie. Der Preis für ihre Freiheit ist immens hoch.
Und auch ihr ältester Sohn Avromi, der momentan in einer Talmudschule in Jerusalem studiert, steckt in einer tiefen Sinnkrise.
Eve Harris beschreibt nun mit sehr viel Einfühlungsvermögen die Schwierigkeiten, in denen sich ihre Figuren befinden. Es geht ihr dabei nicht darum, die Religion und Gott selbst in Frage zu stellen. Was sie kritisiert sind die z.T. unmenschlichen Gesetze und Verbote, die Männer vor Jahrhunderten erlassen haben und auf deren Einhaltung religiöse Eiferer dringen. Dabei prangert sie jegliche Intoleranz und Bigotterie an.
In ihrer Kritik bleibt die Autorin aber nicht einseitig, denn dass auch Männer unter dem rigiden Diktat leiden, zeigt sie eindrucksvoll an verschiedenen Beispielen.
Und längst nicht alle orthodoxen Juden verhalten sich hier hartherzig und engstirnig. Chani, Rivka und Avromi treffen auf Menschen, die sie in ihrem Bestreben, den richtigen Weg zu finden, bestärken und unterstützen.
Eve Harris beschreibt all ihre Figuren mit Liebe und Empathie und mit genügend Humor. Auch für die Fehler und Schwächen der weniger sympathischen Zeitgenossen zeigt sie Verständnis .
Kapitelweise wechselt die Autorin die Perspektive, so dass der Leser den Hauptfiguren sehr nahe kommt. Und auch die Schauplätze wechseln. Mal sind wir in Golders Green, jenem Stadtteil Londons, in dem vorrangig orthodoxe Juden wohnen, mal in Israel. Dort stellt sie dem ruhigen und traditionellen Leben in Jerusalem das lebendige und pulsierende Tel Aviv gegenüber.
Wie schon im Vorgängerroman bekommt der Leser einen tiefen Einblick in jüdischen Alltag, in Bräuche und Rituale orthodoxer Juden. Das ist ein Blick in eine uns eher fremde unbekannte Welt. Zur Atmosphäre tragen auch die zahlreichen, im Text verstreuten jüdischen Begriffe bei, von denen die wichtigsten in einem anhängenden Glossar erläutert werden.
Mit leichten Ton und in schnörkelloser Sprache greift die Autorin fundamentale Fragen auf.
Man muss den ersten Band nicht kennen, um den vorliegenden Roman verstehen und genießen zu können. Doch wer ihn liest, will sicherlich den Vorgänger kennenlernen und alle, die mit derselben Begeisterung wie ich „ Die Hochzeit der Chani Kaufman“ gelesen haben, werden sich auf die Fortsetzung stürzen.
Und wir alle können nur hoffen, dass Eve Harris nicht wieder so viele Jahre verstreichen lässt bis zum nächsten Folgeroman.
„ Die Hoffnung der Chani Kaufman“ ist Unterhaltungsliteratur vom Feinsten, ein Roman, der einem von Anbeginn an fesselt und nicht mehr loslässt.