Gefühlvoll und authentisch

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Nach dem Zuklappen dieses Romans habe ich eine Träne für Mina vergossen. Selten habe ich mich so tief mit den Ängsten, Gefühlen und Entscheidungen einer Figur identifiziert wie mit ihr. Auf der Suche nach sich selbst kehrt sie zurück an den einzigen Ort, an dem sie je wirklich glücklich war. Ein Ort, der ihr in ihrer Kindheit viel zu früh entrissen wurde. Ich war selbst in Maine. Ich kenne diese Fischerorte, das Licht über dem Wasser, die salzige Luft, das Knarzen der Holzstege. Gerade die regnerischen Tage haben sich in mein Herz eingebrannt. Diese raue Natur, die Menschen, der Fischfang, all das hat mich beim Lesen zurückversetzt. Die Erinnerungen an meine Reise standen greifbar vor mir.
Was mich am meisten bewegt hat, ist die Komplexität der Figur Judith, Minas Mutter, die für so viel Leere in Minas Leben verantwortlich ist. Judith konnte nur Minas großen Bruder lieben, der tödlich verunglückte. Mina ließ sie bis ins Erwachsenenalter mit permanenter Kritik, mit Nichtgenügen, mit dem Gefühl zurück, nie gewollt zu sein. Mina wuchs mit väterlicher Zuneigung auf, die Mutter emotional nie greifbar. Es war schwer, das zu lesen. Und noch schwerer zu spüren, wie sehr sich das in Minas Erwachsenwerden eingegraben hat.
Gerade deshalb war ich so stolz auf Mina, weil sie sich nicht hat kleinkriegen und verbiegen lassen. Weil sie ihren Schmerz aus Selbstachtung ansieht, zurückgeht, und am Ende ihre Grenze zieht. Dieser Umgang mit Verlust und Trauer, den nicht nur Mina, sondern auch die anderen Frauen in Stone Harbour vorleben,, ist so fein, so glaubwürdig, so vorbildlich im Roman gezeichnet, dass ich Seite für Seite dachte: So fühlt es sich also an, wenn jemand auf der Suche nach sich selbst leise stärker wird.
An Minas Seite stehen Ann und Julie: zwei Frauen, die völlig unterschiedlich sind und doch genau wie sie lernen mussten, allein weiterzugehen. Dies ist ein Roman über starke Frauen, die für ihre völlige Unabhängigkeit von Männern kämpfen, ohne Männer zu verteufeln. Sie lieben sie. Sie werden geliebt. Männer dürfen hier fürsorglich sein, liebevoll, verlässlich: als Partner, als Freunde, als Väter. Der Zusammenhalt, der in diesem Buch beschrieben wird, ist berührend und glaubwürdig, auch über Geschlechterrollen hinaus.
Die Handlungsweisen der drei Protagonistinnen sind so selbstverständlich, so in sich logisch, dass selbst ein blauer Hummer als Haustier nicht für Erstaunen sorgt, sondern seine Botschaft direkt ins Herz geht. Ich glaube, in jeder Frau steckt ein bisschen Ann, Julie und Mina mit all ihrem Mut, ihre Widersprüche und ihre Verletzlichkeit.
Auch die Nebenfiguren sind liebevoll gezeichnet, tragen mit, halten aus, geben Halt. Dieser Roman erzählt nicht von Heldinnen im klassischen Sinn, sondern von Frauen, die leben, lieben, leiden und wieder aufstehen. Und er zeigt etwas, das mich besonders berührt hat: Dass es nicht immer nur ein Vorwärts geben muss. Manchmal ist auch ein Zurück ein Fortschritt. Manchmal führt uns das Leben genau dorthin zurück, wo wir heilen können. Und manchmal braucht es nur einen stillen Hafen, drei Frauen und einen Hummer, um zu begreifen, wer wir wirklich sind.