"Murmeltier" mal anders!

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Jakob ist ein ganz normaler amerikanischer Teenager, der ein wenig schüchtern ist und sich ansonsten wenig Sorgen um die Zukunft machen muss, weil er durch die Drogeriemarkt-Dynastie seiner Familie finanziell abgesichert ist und dies auch wahrscheinlich immer sein wird. Sein Leben gerät aus den Fugen als sein 85jähriger Großvater Abraham, genannt Abe, auf geheimnisvolle und brutale Weise ums Leben kommt und ihm als Vermächtnis seine geheimnisvollen letzten Worte hinterlässt: er soll den Vogel suchen, hinter dem Grab, die Schleife, 3. September 1940.

Nach vielen Psychotherapien beschließt Jacob mit seinem Vater – der Hobby-Ornithologe ist – auf eine kleine Insel neben Wales aufzubrechen, auf der sein Großvater als polnischer Flüchtling vor den Nazis Teile seiner Jugend verbracht haben soll. Dort nehmen die Ereignisse ihren Lauf: Jacob trifft auf Miss Peregrine und ihre Flüchtlingskinder, die aussehen wie die mysteriösen Kinder mit besonderen Fähigkeiten auf den Fotografien seines Großvaters. Sie sind in einer Zeitschleife gefangen und erleben den 3. September 1940 immer und immer wieder, um nicht den Bomben der Deutschen zum Opfer zu fallen. Immer mehr gerät Jacob in ihren Sog und erfährt bald, dass auch er etwas „Besonderes“ ist…

Nach der Lektüre des Klappentextes hatte ich erwartet Schauer und Grusel zu empfinden beim Lesen des Romans. Diese Erwartung hat sich nur sehr bedingt bestätigt. Das Buch spielt zwar mit Fantasyelementen (Zeitreise, außergewöhnliche Begebenheiten etc.), ist aber vom Gruselfaktor her kein Stephen King-ähnlicher Roman. Er changiert gekonnt zwischen dem sachlichen Erzählstil des Ich-Erzählers und dem Eindruck der bizarren Geschichte, die dieser erlebt. Wie Jacob aus seinem eintönigen Leben wird auch der Leser aus der Geschichte rausgerissen, um einen Blick auf die Fotos zu werfen, dieselben Fotos, mit denen auch Jacob konfrontiert ist. Dies schafft eine enge Verbindung zwischen Leser und Ich-Erzähler, mit dem er quasi gemeinsam auf die Suche nach den „besonderen Kindern“ und ihrer Betreuerin geht. Das macht den Roman multimedial, man kann ihn sowohl visuell als auch durch den Text begreifen. Intertextuell ist er durch die Referenz auf die Werke Ralph Waldo Emersons, die Jacob helfen, den Sinn der letzten Worte seines Großvaters nachzuvollziehen.

Alles in allem ist dieses Buch spannend, mystisch und gelegentlich auch beunruhigend, weil es den Leser dazu herausfordert, Schein und Sein nicht als Entsprechungen zu sehen. In der Welt, in die Jacob eintritt ist nichts wie es scheint, nicht mal auf die Konstante „Zeit“, die bisher berechenbar schien, ist mehr Verlass.

Im Roman geht es auch um die Angst und ihre Etikettierung sowie um die Frage: Heilt die Zeit alle Wunden oder eben doch nicht? Bei Abraham, der noch im hohen Alter von den „Monstern“ aus seiner Vergangenheit verfolgt wurde, scheint dies nicht der Fall zu sein, während die Kinder von Miss Peregrine durch ihr „Immer-wieder-erleben“ des gleichen Tages mit der Zeit abgestumpft sind und den Bombenangriff nur noch als alltägliches Schauspiel erleben. Auch Emmas Gefühlen, die in Abraham Zeit ihres Lebens verliebt gewesen ist, scheint die Zeit nichts anzuhaben-im Gegenteil: durch Jacobs Erscheinen wird alles wieder aufgewühlt.

Ich finde diesen Roman sehr spannend und empfehle ihn allen, die gerne den Dingen auf den Grund gehen, nichts für selbstverständlich nehmen und als Leser abenteuerlustig sind. Dieses Buch und seine Geschichte(n) kann man nicht so schnell vergessen und man fragt sich beständig: kann es eine Parallelwelt in der Zeit wirklich geben. Werden Zeitreisen irgendwann möglich sein- oder: sind sie es etwa längst?

Zum Schluss ist noch zu sagen, dass der Roman wohl in erster Linie jugendliche Leser ansprechen soll. Nicht nur der Protagonist und die im Titel erwähnten „Kinder“ sind jung, sondern auch der Sprachstil ist einfach zu erfassen und somit für junge Leser besonders geeignet. Es ist eine „Coming-of-Age“-Initiationsgeschichte, die hier erzählt wird.