Ein Buch zum Judas-Evangelium

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sonnenwind Avatar

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Die Schuhgröße "Thriller" ist ziemlich groß, aber das Buch läßt sich angenehm und flüssig lesen. Der Inhalt ist allerdings nicht für jeden Geschmack geeignet. Die Handlung aus den ersten paar Seiten setzt sich erst im allerletzten Teil fort, und bis weit nach der Hälfte steht die Frage im Raum, was denn mit den Gespenstern aus dem Flugzeug am Anfang geschehen ist.

Aber das ist nicht die Hauptsache. Im Wesentlichen geht es um eine obskure Gruppe/Clique/Sekte, ihre Grundlagen und ihre Aktivitäten. Die Phantasie des Autors ist zu beneiden! Auf solche Ideen muß man erst mal kommen. Es ist allgemein bekannt, daß es eine ganze Reihe von Apokryphen gibt - Texte des Alten und vor allem des Neuen Testaments, die es nicht in den biblischen Kanon geschafft haben und teilweise zu verrückten Theologien in den unterschiedlichsten Gruppierungen geführt haben. Hier handelt es sich um eine davon. Eine Gruppe begründet ihre Existenz auf das Judas-Evangelium. Das ist eine Schrift der Gnostiker, die von Anfang an von den Aposteln mit aller Kraft bekämpft wurden.

Für die Gnostiker ist das höchste Ziel die Erkenntnis (griech.: γνῶσις; gnosis), aufgrund derer man sich selbst erlösen kann (Wikipedia). Selbsterlösung widerspricht der Aussage der Bibel diametral, deshalb war und ist die gnostische Lehre innerhalb des Christentums inkompatibel. Das wird im Buch nicht deutlich, wäre aber wichtig zur Erläuterung.

Auf alle Fälle verhalten sich die Anhänger dieser Gruppe auch absolut inkompatibel mit der christlichen Moral. Mord ist legitimes Arbeitsmittel und dominiert die Handlung von Anfang bis Ende. Der Kampf des unfreiwilligen Ermittler-Duos gegen die gnostische Übermacht geht bis an alle Grenzen.

Ein weiterer unangenehmer Faktor ist die Protagonistin, die immer mal wieder als Lesbierin beschrieben wird. Weder gewinnt die Handlung dadurch an Spannung, noch wird sie anregender oder informativer. Dieser Zug scheint mehr der allgegenwärtigen neuen Toleranz geschuldet und wirkt wie nachträglich eingefügt. Das Buch hätte davon profitiert, wenn diese Abschnitte einfach weggefallen wären.

Im Großen und Ganzen ist das Buch unterhaltsam zu lesen, falls man nicht von Brutalität und abstrusem Glaubensverständnis abgeschreckt wird. Der Autor versteht es, seinen Stil völlig unauffällig zu halten: der Leser ist nicht auf die Worte fixiert, sondern geht voll in der Handlung auf. Die Sprache ist schnörkellos und präzise, leicht verständlich und deutlich. Die Spannung trägt das Hauptgewicht, selbst dann, wenn philosophische oder theologische Gedanken zur Sprache kommen.

In vorangegangenen Rezensionen wird von "Schriftrollen" gesprochen. Das ist nicht korrekt. Das Judas-Evangelium ist - wie auch im Buch erläutert - ein Kodex. Kodices sehen aber aus wie unsere heutigen Bücher, einzelne Blätter, an einer Seite verbunden.