Zu stark konstruierter Plot

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marcello Avatar

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In "Die Lebenden und die Toten" will sich Kommissarin Pia Kirchhoff gerade auf den Weg in die Flitterwochen machen, als kurz vor Weihnachten ein Präzisionsschütze wahllos auf Menschen zu schießen scheint. Die Bevölkerung ist sofort in Sorge und da von oben immer mehr Druck ausgeübt wird, dass dieser Fall gelöst werden soll, wird das Ermittlerteam rund um Kirchhoff und Bodenstein weiter aufgestockt. Die Opferzahl mehrt sich, aber dadurch erkennen die Ermittler mehr und mehr die Zusammenhänge. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, damit der Sniper nicht noch mehr Menschen tötet.
Was habe ich mich auf einen neuen Band aus der Feder von Neuhaus gefreut! Aber letztlich war ich doch überrascht, wie wenig dieser Krimi den typischen Nele-Neuhaus-Stil, der mir so gut gefällt, inne hatte.
Eigentlich findet alles typisch an: die Geschichte kommt wie gewohnt schleppend in Gang. Die Charaktere müssen vorgestellt werden, der Leser bekommt die Möglichkeit in die aktuelle private Situation der Ermittler schauen zu dürfen und auch der Fall an sich muss erstmal präsentiert werden. All das ist man gewohnt und wenn man bis jetzt dabei geblieben ist, darf man sich auch nicht mehr beschweren. Aber dann wird doch einiges geboten oder eben NICHT geboten, was man von Nele Neuhaus erwartet. Zunächst war ich überrascht, wie wenig Perspektiven dem Leser geboten werden. Es gibt viele Leser, die sich durch unterschiedliche Figurenperspektiven schnell überfordert fühlen, aber gerade in einem Krimi finde ich diese Erzählweise ausgezeichnet, da dadurch die Spannung gesteigert wird und man nach und nach selbst mitraten kann und letztlich auch die Motivik hinter den einzelnen Personen besser nachvollziehen kann. Bis auf die sehr kurze Täterperspektive, Karoline und die Ermittler selbst, war nichts geboten und das hat mich doch etwas enttäuscht. Hinzu kommt, dass man die persönliche Seite von Kirchhoff und Bodenstein zu schätzen gelernt hat. Man hat mit den beiden schon einiges erlebt und verfolgt dies auch gerne. Aber auch in dieser Hinsicht wurde nur wenig geboten, die ganzen 550 Seiten waren wirklich sehr Fallfokussiert.
Dieser Fokus auf den Fall kann durchaus gut sein, vorausgesetzt es wird Spannung dadurch erzeugt und die Seiten ziehen sich nicht wie Kaugummi. Der Fall selbst ist mit seiner Auflösung nachher wieder hochbrisant und sehr aktuell gewählt. Die ganze Konstruktion wirkte wohl durchdacht und absolut schlüssig. Die Spannung war bis auf den bereits wohl bekannten Anfang absolut gegeben Mir hat gefallen, dass sich Bodenstein und Kirchhoff in ihren Ermittlungen auf einem Niveau bewegten. Gerade Bodenstein ist also wieder angekommen und kann nun endlich ausspielen, was er drauf hat (hierfür ist sein wenig behandeltes Privatleben sicherlich dienlich). Aber viele kleinere Aspekte wirkten mir doch zu konstruiert. Hier wurde ein fieser und überheblicher Forensiker eingeführt, dann kam noch eine Profilerin hinzu, die sich als Schwester von Pia entpuppte. Aber warum eigentlich? Zur Lösung des Falls haben sie nicht im geringsten beigetragen, nein, sogar eher die Ermittlungen behindert. Die Ermittlungen sprangen zwischendurch auch arg hin und her. Dann war mal wieder jemand nicht erreichbar und dann war wieder warten angesagt, nur damit möglichst viele Opfer sterben konnte (zumindest hatte ich das Gefühl). Was ich damit sagen will: den Fall hätte man sicherlich auch auf 300 Seiten abhandeln können, ohne, dass etwas von der Spannung und der Glaubwürdigkeit verloren gegangen wäre.
Gut gefallen hat mir dagegen wieder, wie die Tochter eines Opfers selbst zu ermitteln begann. Ihre Perspektive und ihre Aktivitäten haben nämlich wirklich was gebracht, so dass ich dieen Teil unter positiv festhalte.
Fazit: Von der Art des Falles her, von der Brisanz her, war das typisch Nele Neuhaus. Aber mir haben die diversen Perspektiven gefehlt und mehr Privates (gerade Weihnachten und Silvester bieten doch so viel Potenzial). Der Fall war an manchen Stellen zu konstruiert. Unnötige Charaktere wurden eingeführt. All dies hat dazu geführt, dass man über 500 Seiten zu lesen hatte, die durchaus auch überzeugend auf 300 Seiten gepackt werden hätte können. Schade! Hier muss sich Nele Neuhaus wieder steigern!