Aber ja, aber nein, aber vielleicht?!

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Sie heißt Clara Konrad und ist... Moment, heißt sie wirklich Clara Konrad? Oder ist sie jemand ganz anderes? Na ja, gehen wir einmal davon aus, dass sie Clara Konrad ist. In einer therapeutischen Einrichtung begibt sie sich in Gesprächssituationen mit ihrer Psychologin, lässt ihr bisheriges Leben Revue passieren, besonders die Ereignisse, die zu ihrem Aufenthalt in der Klinik geführt haben. Doch was davon ist überhaupt so geschehen, wie es Clara Konrad schildert – wenn sie denn überhaupt Clara Konrad ist? Sie berichtet von ihrer Arbeit im „Zentrum“, in dem sie als Wahrsagerin am Telefon ihren Kund*innen mit Hilfe der Sterne die Zukunft prognostiziert hat. Eine, der sie die wahrste Wahrheit vorausgedeutet hat, ist Frau Morgenstern (oder „von Morgenstern“?), auf jeden Fall Siri mit Vornamen. Gemeinsam mit ihr begibt sich Clara auf eine Reise nach Las Vegas, um dem Glück auf die Schliche zu kommen, es herauszufordern, groß finanziell abzusahnen. Siri und Clara werden zu Botschafterinnen der Voraussage – doch hat das alles so überhaupt stattgefunden?

„Sind wir nicht genau das: die Summe der Geschichten, die wir anderen erzählen?“ (S. 172)

Wenn die Realität nicht nur verschwimmt, sondern von Anfang an unklar ist, wenn eine Protagonistin nicht nur eine unzuverlässige Erzählerin ist, sondern das gesamte narrative Konstrukt in Frage gestellt werden muss – im inneren Erzählten ebenso wie in der äußeren Struktur –, dann haben wir es als Leser*innen mit einem spannenden Experiment zu tun, das unsere Lesegewohnheiten massiv auf die Probe stellt. Friedemann Karig wagt es mit „Die Lügnerin“ einen Romantext vorzulegen, dessen Logiken – innen wie außen – einer ganz eigenen Dynamik folgen, stets an der Grenze zur Überforderung, doch ohne den fatalen Sprung ins Bodenlose.

Ganz im Gegenteil: Karigs Ich-Erzählerin ist einerseits von einer auratischen Schärfe und bleibt gleichzeitig herrlich konturlos. Man vermag zu keinem Zeitpunkt eine gesicherte Auskunft über diese vermeintliche Clara Konrad geben zu können. Neben ihrer Arbeit als Tele-Wahrsagerin montiert Karig auch eine politische Dimension in seinen Text ein, thematisiert das einst (oder immer noch?) zweigeteilte Deutschland ebenso wie die Nachkriegszeit. Flucht und Vertreibung rücken in den Vordergrund und verschwinden genauso schnell wieder von der textlichen Bildfläche, wenn sich die Realitätsdiskurse erneut wie tektonische Platten zu verschieben beginnen. Überhaupt ist Karigs Text von einer Topographie der Unsicherheit durchzogen, voller Löcher und unüberwindbarer Schluchten, angereichert mit nur schwer zu erklimmenden Berg-Text-Spitzen. Selbst die angedeutete Liebesgeschichte zum Kollegen Pawel wird von Fragezeichen dominiert: Bildet sie sich die Liebe zu ihm nur ein? Existiert er unter Umständen nur in ihrer Fantasie, auch wenn selbst ihr Chef, der ebenfalls nur Fiktion sein könnte, Pawel ihr gegenüber erwähnt? All das klingt nach einem dichten Nebel aus Geschichten, doch Friedemann Karig hat ein exzellentes Gespür für Timing und wendet seine Erzählung jeweils im genau richtigen Moment in eine neue, unvorhergesehene, aber hervorragend passende Richtung.

Dieses Sich-Entziehen sämtlicher Logiken kostet Kraft, werden wir als Leser*innen doch immer wieder auf unser Bedürfnis nach Konsistenz und Kohärenz, nach einem unbedingten Verstehen-Wollen zurückgeworfen. Dass Karig das Spiel immer wieder auf die Spitze treibt und auch sein feuriges Finale furioso keine endgültigen Antworten liefert – so viel darf an dieser Stelle verraten werden –, zeichnet ihn als stilsicheren und mehr als überzeugenden Autoren aus, der seine inneren Welten absolut im Griff hat. Ich hatte einen großen Spaß mit der „Lügnerin“, bin mir aber sehr bewusst, dass dieser Text nicht für jede*n Lesegeschmack die richtige Wahl ist. Wer es speziell mag und mit Ungewissheiten bis zum Schluss leben kann, dem sei dieser narrative Rösselsprung sehr ans Herz gelegt.