Gegen den reaktionären Strom schwimmen

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Eine Lungenschwimmprobe?… ist bis heute ein forensische Methode zur Abgrenzung von Lebend- und Totgeburten: Hat ein obduzierte Säugling vor seinem Tod bereits geatmet, wird seine Lunge schwimmen. Im Gegensatz dazu sinken die nicht belüfteten Lungen von tot geborenen Kleinkindern ab.
Hierzulande erstmalig durchgeführt von Johannes Schreyer, Stadtphysikus in Zeitz – einer kleinen Gemeinde ca. 50 km südwestlich von Leipzig – am Leichnam des unehelichen Kindes der 15jährigen Gutsherrentochter Anna Voigt aus Elstertrebnitz.

Dass sich Frauen im ausgehenden 17. Jhd. bei unehelichen Schwangerschaften nicht anders zu helfen wussten, war üblich. Wie es viele Jahre später sogar noch Jane Austens »Stolz und Vorurteil« widergibt, wird die Schande zum lebenslangen Stigma - auch für sämtliche Schwestern der Familie. Vielleicht gerade deshalb steht der naheliegende Tatverdacht der Kindstötung in Raum.

Renberg hat penibel recherchiert, erzählt flüssig und lebendig – die Lektüre hat einen starken Motor, der die Leserschaft durch die zahlreichen Seiten des Buches trägt. Keine ermüdende lineare Erzählung, sondern überraschende Wechsel der Erzählperspektiven, in denen viele unterschiedliche Figuren nicht nur auf das Mädchen Anna sondern auch das damalige soziale und politische Leben blicken.
Allen voran drei engagierte Männer: Ein vermögender Vater, der sich selbstbewußt und schützend vor die Schandbefleckte stellt, der junge Anwalt Chistian Thomasius, der bis heute als Wegbreiter der damals beginnenden Aufklärung gilt, und der erwähnte Mediziner Johannes Schreyer, der ebenfalls in der auf Wissenschaft basierenden Vernunft einen Ausweg aus dem menschlichen Elend sieht, das Krieg und Pest hinterlassen haben.

Wort für Wort wird vor allem weiblichen Leserinnen klar werden, wie beklemmend diese Zeit war. Frauen waren vollkommen eingesperrt in männliche Deutungs- und Handspielräume, deren Folgen wehrlos ausgeliefert.

Und genau hier setzt meine Kritik an diesem Buch an. Auch der Autor arbeitet sich an den maskulinen Perspektiven ab. Leider gelingt es ihm nicht, glaubwürdige Innenansichten seiner weiblichen Figuren zu kreieren. Anna – obwohl im stets im Zentrum des Buches – bleibt den Lesenden bis zuletzt fern. Immer nur Spielball im größeren Gefüge, wird sie nie wahrhaftig erlebbar und zeigt keine authentische Emotion. In gleicher Weise wie die Männer die historische Anna Voigt durch die Mühlen der Justiz gedreht haben, schiebt der Autor sie als Variable durch die Erzählung.

Das mag einer formal passend finden – über 600 Seiten für mich nicht befriedigend.