Herausragender historischer Roman

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
leukam Avatar

Von



Der norwegische Schriftsteller Tore Renberg hat mit „ Die Lungenschwimmprobe“ seinen ersten historischen Roman vorgelegt. In seiner Heimat wurde er dafür gefeiert und auch in Deutschland dürfte er damit erfolgreich sein, spielt doch die erzählte Geschichte in Sachsen, vorrangig in Leipzig, Ende des 17. Jahrhunderts.
Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sind noch lange nicht vergessen und auch nicht die Pest, die erst vor kurzem die Stadt heimgesucht hat.
Der Roman fußt auf einem historisch verbrieften Fall. Im Herbst 1681 bringt die ledige 15jährige Anna Voigt ein Kind zur Welt. Zusammen mit ihrer Mutter, die völlig überrascht von der Schwangerschaft ihrer Tochter war, vergraben die beiden das Totgeborene. Dienstboten, die das Kind ausgraben, bringen den Fall zur Anzeige. Nun sieht sich das Mädchen mit dem Vorwurf der Kindstötung konfrontiert, die Mutter ist als Mittäterin ebenfalls angeklagt. Nach dem damaligen geltenden Recht, der „ Constitution Criminalis Carolina“ droht ihr damit der Tod, durch lebendiges Begraben, durch Pfählen oder Ertränken. Dafür ist aber ihr Schuldeingeständnis erforderlich, was notfalls durch Folter erzwungen wird.
Anna ist aber die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers, der über die nötigen Mittel verfügt und sich einen angesehenen Rechtsgelehrten leisten kann. Der Vater beauftragt den Leipziger Rechtsanwalt Christian Thomasius, einen streitbaren Juristen, der sich mutig gegen die herrschende Obrigkeit stellt. ( Thomasius, eine historisch bedeutsame Figur, gilt als Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland und war einer der Gründungsväter der Universität Halle.) Dieser kann sich in seiner Beweisführung auf die „ Lungenschwimmprobe“ stützen. Denn bei den ersten Untersuchungen des toten Kindes war der Arzt Schreyer zugegen, der bei Annas Kind diese neue Untersuchungsmethode anwendet. Sinkt die Lunge nach der Autopsie im Wasser, ist das Kind totgeboren, sinkt sie nicht, enthält sie Luft, dann hat das Kind gelebt. Die titelgebende Lungenschwimmprobe markiert den Beginn der modernen Rechtsmedizin.
Obwohl das Ergebnis Annas Aussage stützt, ist Anna noch lange nicht gerettet. Der Prozess zieht sich über Jahre hin, zu viele Widersacher machen dem Verteidiger die Arbeit schwer und Annas Leid immer größer.
Um ein differenziertes Bild zu bekommen, erzählt Tore Renberg aus verschiedenen Perspektiven. So leidet der Leser nicht nur mit der angeklagten jungen Frau, sondern liest ebenso von der Verzweiflung und den Rachegedanken des Vaters, verfolgt die Bemühungen des Rechtsanwalts und erfährt viel über das Leben und die Arbeit eines Scharfrichters. Auch schaltet sich hin und wieder der Autor selbst ein, lässt uns in die Zukunft der Figuren blicken, zeigt auf, wo er den Bereich der Fakten verlässt und macht seine Faszination für das Thema spürbar.
Dabei zeichnet er seine Figuren facettenreich und ambivalent. So ist sein Thomasius nicht nur ein kluger Kopf, der sich dem Fortschritt und der Aufklärung verschrieben hat, sondern auch eitel und aufbrausend
Mein einziger Kritikpunkt an diesem außergewöhnlichen historischen Roman ist der Rachefeldzug des verbitterten Vaters. Dieser genau beschriebenen Gewaltexzesse hätte es nicht bedurft.
Recherchiert hat der Autor über fünf Jahre lang, nicht nur in zahlreichen Archiven und im Austausch mit Wissenschaftlern, sondern auch ganz konkret vor Ort.
Lesenswert ist ebenso noch der Anhang, der online abrufbar ist ( per QR-Code oder per Link ), in dem die Kurzbiograhien aller historischer Personen aufgeführt werden, sowie historisches Bildmaterial und sämtliche Quellenangaben.
„ Die Lungenschwimmprobe“ ragt aus der Masse an historischen Romanen heraus, denn hier ist der historische Hintergrund nicht nur Kulisse für eine spannende Geschichte. Tore Renberg lag es vielmehr daran, ein authentisches Bild dieser Zeit zu vermitteln, einer Zeit, in der traditionelles Denken auf Wissenschaft und Rationalismus trifft. Dabei erfährt der Leser vieles über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, über die Macht der Obrigkeit und der Kirche, das geltende Rechtssystem und die Stellung der Frau.
Mit seinen über 700 Seiten, mit seinem detailreichen Sachwissen und seinen Zeiten- und Perspektivwechseln , sowie einer Sprache, die sich der barocken Zeit anpasst, ist es aber kein leicht zu konsumierendes Buch, sondern erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers.
Fazit: Nicht nur für historisch Interessierte ein äußerst lesenswerter Roman!