Sehr interessant, aber anders als der Klappentext vermuten lässt

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Die Lungenschwimmprobe von Tore Renberg, übersetzt aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger, behandelt das Schicksal der Anna Voigt, einer jungen Frau, die bezichtigt wurde, ihr Kind nach der Geburt umgebracht zu haben.
Es wird in relativ langen Kapiteln erzählt, die jeweils die Perspektive unterschiedlicher am Prozess beteiligter Personen fokussieren. Wir erfahren viel über die damaligen Gesetze (v.a. über die Carolina), die das gottesfürchtige und misogyne Weltbild widerspiegelten und darüber, wie schwierig es war, mit Logik und Argumenten dagegen anzukämpfen. Ab und zu empfand ich es als etwas langatmig und repetitiv, letztendlich hat das aber die Leselust nicht getrübt und ich bin durch die 700 Seiten innerhalb weniger Tage geflogen.

Sehr interessant fand ich die Erzählhaltung, denn der Erzähler präsentiert sich auf der einen Seite als allwissend (bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. im zweiten Buch), lässt aber an einigen Stellen auch seine Unzuverlässigkeit durchblicken, wenn er beispielsweise von Vermutungen spricht. Er präsentiert sich außerhalb des Geschehens und verweist auf die Forschungslage, verwendet aber die damals übliche Sprache (inklusive sehr verschachtelter Satzgefüge mit mehreren Einschüben, was sich jedoch nach ein paar Kapiteln relativ flüssig lesen ließ). Diese Gegensätze erzeugen eine gewisse Spannung, die sehr subtil wirkt, und für mich typisch für gute historische Romane ist. Man fragt sich beim Lesen, wo genau die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verläuft, und passt die eigenen Erwartungen immer wieder neu an. Auch gibt es anekdotische Kapitel, in denen der Autor den Entstehungsprozess kommentiert.

In diesem Zusammenhang möchte ich die Ausdauer und Genauigkeit, mit der der Autor recherchiert hat, erwähnen. Am Ende des Buches findet sich ein QR-Code, mit dem man ein Dokument herunterladen kann, in dem sich ein Register sämtlicher historischer Personen findet, die im Roman vorkommen, inklusive teils ausführlicher Beschreibungen. Zusätzlich enthält es eine umfangreiche Übersicht der Sekundärliteratur und Abbildungen (wie Zeichnungen und Karten), mithilfe derer man sich die Originalschauplätze noch besser vorstellen kann. Natürlich braucht es das nicht unbedingt, ich fand es bei diesem Roman jedoch sehr aufschlussreich. Ich hätte mich gefreut, dafür nicht extra das Handy zur Hand nehmen zu müssen und bei Erwähnung eines neuen Namens einmal schnell hinten im Buch nachschauen zu können, aber ich kann auch verstehen, dass das Buch dann noch um einiges dicker geworden wäre.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die bereits erwähnte Sprache für einige Leser:innen ein Grund sein könnte, das Buch zur Seite zu legen. Viele Latinismen oder gar gleich lateinische Passagen, viele gestelzte, gekünstelte Konstruktionen und ausschweifende Monologe, die sich an der Rhetorik des siebzehnten Jahrhunderts orientieren, sorgen für einen sehr eigenwilligen Stil. Auch schwingt bei den Herren der gehobenen Berufsstände (ob nun Juristen, Theologen oder Mediziner) eine gewisse Arroganz mit, die nicht immer sympathisch ist. Ich fand es schade, dass die männlichen Sichtweisen so viel Raum einnehmen und Anna vergleichsweise wenig zu Wort kommt bzw. wir wenig aus ihrer Perspektive erzählt bekommen. Das mag die damaligen Verhältnisse repräsentieren, muss in aktueller Literatur ja aber nicht unbedingt so reproduziert werden.

Aufgrund des Titels und des Klappentextes hatte ich erwartet, mehr Fokus auf der Lungenschwimmprobe, dem wissenschaftlichen medizinischen Prozess und den Bemühungen der Aufklärung zu finden. Tatsächlich geht es allerdings sehr viel um die Darstellung der Gesellschaft und die Innenwelt der Protagonisten.

Insgesamt war das ein sehr unterhaltsamer und interessanter Roman, den ich trotz der vielen Seiten sehr schnell gelesen habe, auch wenn er nicht unbedingt das fokussiert, was ich mir erhofft hatte. Bei der Bewertung mit Sternen tue ich mich gerade etwas schwer, denn hier spielen besonders viele Kriterien eine Rolle, die sehr unterschiedlich ausfallen. Ich denke, 3,5 passt insgesamt ganz gut; ein Buch, das ich ganz gerne gelesen habe, aber doch die ein oder andere kleine Schwäche hat.