Virtuos erzählt - mit gewissen Längen
Für Mensch und Obrigkeit steht das Urteil fest: Anna Voigt ist eine Kindsmörderin. Wie könnte es auch anders sein: Die Vierzehnjährige „treibt Unzucht“ mit einem buckligen Knecht, verschweigt die Schwangerschaft, bringt das Kind zur Welt, tötet und verscharrt es im Garten. Ihre Beteuerung, das Kind sei schon tot zur Welt gekommen, nützen ihr nichts. Die Rechtschaffenen wissen es besser, verlangen Gerechtigkeit – und die kann nur auf Todesstrafe lauten. Tore Renberg nimmt uns mit ins Sachsen des Jahres 1681 und erzählt den historisch belegten Fall der jungen Anna Voigt. Sein Roman sticht unter der Vielzahl historischer Romane in besonderer Weise hervor. Das gilt nicht nur für den Plot der Geschichte, der einen höchst interessanten Blick auf die Rechtsauffassungen und den Stand der Rechtsmedizin im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erlaubt. Hier treffen liberale Ideen auf einen starren Verhaltenskodex, brutale Foltermethoden auf aufklärerisches Denken, barocke Lebenswelt auf rigide Glaubensauffassung. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie die „Lungenschwimmprobe“ kurzerhand vom Tisch gewischt. Gleich zu Beginn gelingt es dem norwegischen Autor, den Leser für sich, seine Geschichte und die Personen einzunehmen. Er erzählt virtuos und in einem ganz eigenen Stil. Aber ganz ohne Wermutstropfen geht es leider nicht. Tore Renberg hat den historischen Fall akribisch recherchiert. Das führt allerdings dazu, dass er über weite Strecken das Drama um Anna Voigt in den Hintergrund treten lässt und sich für meine Begriffe allzu weitschweifig auf die Erörterung konträrer Standpunkte eines Juristen, der Kirche, der universitären Lehre und der weltlichen Obrigkeit einlässt. An diesen Stellen wird der Lesefluss durch eher trocken-sachliche Schilderungen gebremst. Sieht man einmal davon ab, liegt mit der Lungenschwimmprobe dennoch ein lesenswerter, über Strecken spannender historischer Roman vor, dem gewisse Streckungen gut getan hätten.