Aus der Lebensmüdigkeit entspringt Ehrlichkeit...

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an_der_see Avatar

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Toni, 55 Jahre alt, geschieden, Vater eines erwachsenen Sohnes, Bruder, Freund, Sohn und Philosophielehrer ist seines Lebens müde und beschließt sich in einem Jahr das Leben zu nehmen. Die 365 Tage bis dahin schreibt er jeden einzelnen Tag seine Gedanken zu ganz unterschiedlichen Themen, aktuellen und vergangenen Begebenheiten seines Lebens auf. Soweit die Rahmenhandlung dieses 829 Seiten umfassenden Buches, welches mir einiges an Lesemotivation und Durchhaltevermögen gekostet hat. Das Buch „Die Mauersegler“ gehört zu den Büchern, bei denen ich mich beim Lesen immer wieder gefragt habe, warum ich es lese. Eine Mischung aus Faszination und fast so etwas wie Abscheu begleiteten mich beim Lesen. Weglegen, es nicht zu Ende lesen, konnte ich aber auch nicht, also arbeitete und wurschtelte ich mich durch die Seiten. Fand es zwischenzeitlich genial, dann wieder trivial, aber auch abstoßend. Aus voller Überzeugung kann ich sagen, dass ich noch nie einem Protagonisten wie dem Toni begegnet bin, selten war mir ein Protagonist so unsympathisch und in seiner Ehrlichkeit gleichzeitig wieder sympathisch. Denn ehrlich ist der Toni. Er hat ja auch nichts mehr zu verlieren, muss nichts beschönigen, keine Umstände glatt schleifen, kann frei heraus seine Gedanken offenbaren. In dem Glauben, dass seine geschriebenen Wörter nie jemand lesen wird.
So nimmt er den Leser mit in die Vergangenheit seines Lebens und in die Gegenwart. Er springt in den Zeiten herum, so dass man einiges an Konzentration benötigt um nicht die Übersicht zu verlieren. Szenen seiner Ehe vermischen sich mit Episoden aus der Gegenwart, sein Sohn ist klein und plötzlich ist er erwachsen, seine Eltern sind tot und dann wieder lebendig, ganz wie es ihm einfällt, woran er sich gerade erinnert. Er erzählt über die große Liebe seines Bruders zu ihrer gemeinsamen Mutter, dann wieder wie er seine Frau Amalia kennenlernte, wie er zum Philosophiestudium kam, vermischt das mit aktuellen und vergangenen politischen Geschehnissen, springt zum Leben seines Vater, zum Leben seiner Mutter, wie er in seiner Kindheit von seinen Eltern behandelt wurde, wiederholt dabei viel, betrachtet aus verschiedenen Richtungen, macht Zwischenstopp in der Gegenwart, erzählt von seinem Freund Humpel, der bei einem Terroranschlag einen Fuß verlor, von seiner Arbeit an der Schule, seinen Schülern, wie er zu seinem Hund Pepa kam. Irgendwie fühlte ich mich beim Lesen phasenweise als steckte ich in einer Zentrifuge, wovon mir drohte schwindelig zu werden.
Ein mittelalter Mann erzählt aus seiner Sicht und an nicht wenigen Stellen kam mir das Erzählen eher wie jammern vor. Er ist lebensmüde, weil das Leben zu anstrengend ist, die Schüler zu anstrengend, die Kollegen zu anstrengend, seine Frau ihn ungerecht behandelt hat, sein Sohn nicht seinen Erwartungen entspricht, er ihn dumm und unbeholfen findet, er ihn und seinen Bruder nicht lieben kann, er nur einen Freund hat, er seine Ruhe haben will, ihm übel mitgespielt wurde, er sich dem Leben ausgeliefert fühlt. Diese Aufzählung könnte ich noch weiter führen. Ich fragte mich immer wieder, ja aber warum genau fühlt er sich denn nun so, was genau hat seine Frau ihm angetan, woher kommt teilweise seine tiefe Abneigung gegenüber den Menschen, gegenüber den Frauen? Und da wäre ich auch schon bei dem Punkt, der mich an diesem Roman emotional sehr strapaziert hat. Seine Ansichten über Frauen, über Sexualität. Er unterscheidet zwischen hässlichen und schönen Frauen, Frauen sind da um ihm Lust zu bereiten, Frauen mit eigener Meinung, starke Frauen, wie es wohl auch seine Ehefrau war, sind ihm nicht recht. Es gibt Szenen in diesem Roman, Aussagen von Toni, die mich getroffen haben und die in mir das Wort „Misogynie“ aufblitzen ließen. Durchaus interessant solche ehrlichen Gedanken eines Mannes lesen zu können, ich hoffe nur sehr, dass sich solche Gedanken in immer weniger Männerköpfen befinden werden. Ich fühlte mich bei der Lektüre teilweise ohnmächtig und hilflos, wollte nicht so stehen lassen, was ich las.
An diesem Roman war nichts leicht und locker, beschwingt oder fröhlich. Ich möchte fast meinen, dass man aufpassen sollte, dass die eigene Stimmung nicht kippt im Laufe dieser 827 Seiten. Stellt sich mir natürlich die Frage, warum ich ihn dann doch zu Ende gelesen habe. Weil, wie schon angedeutet, ich es trotz allem interessant fand, in Toni´s Gedanken einzutauchen, mich seine Ehrlichkeit faszinierte, ich heraus finden wollte, ob er sich tatsächlich umbringen wird, mir der Schreibstil sehr zu sagte und mir die Grundidee des Romans gefiel. Ich kann nach der Lektüre sagen, dass ich sie zwar auf eine Art bereichernd und interessant fand, aber auch extrem anstrengend und belastend. Ich glaube, „Die Mauersegler“ wird nicht zu den Büchern zählen, die ich mehrfach lesen möchte, einmal reicht und vielleicht ist dieses eine Mal schon zu viel.