Das Leben ist eine temporäre Eigenschaft der Materie

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owenmeany Avatar

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Normalerweise ist ein Wälzer von 830 Seiten für mich gar kein Problem, aber die haben sich diesmal doch ganz schön gezogen. Die misanthropischen Ergüsse eines sich auf seinen Suizid Vorbereitenden habe ich nur ertragen in der Hoffnung, dass es irgendwann eine Wendung gibt, die dieses Elend mit Sinn erfüllt. Das leistet aber noch nicht einmal die schon im Waschzettel angesagte Begegnung mit der Besitzerin eines Hundes namens Toni. Aber ich habe tapfer und entschlossen durchgehalten, von einer gelinden Spannung getrieben, wer wohl die anonymen Schreiben verfasst hat und: tut er es am Schluss oder tut er es nicht? Das wurde mir im Laufe der Lektüre aber auch immer egaler.

Leider entbehrt dieses Werk völlig der Dynamik und Dramatik von "Patria", in der sich mir anhand von ineinander verflochtenen Einzelschicksalen die ganze verfahrene Geschichte der baskischen Freiheitsbewegung offenbarte: im Mauersegler geht es um die Depression eines singulären Mannes, der in sich zu viele verschiedene Probleme vereinigt, die teilweise auf gesellschaftliche Zustände zurückzuführen sind, das kommt aber nur ganz verstreut zu Tage, so dass sich kein schlüssiges Bild ergibt.

Diese "Chronik eines angekündigten Todes" lässt durch die Tagebuchform eine chronologische Erzählweise erwarten, doch wird dies schon bald konterkariert durch viele Rückblenden, in denen sich der Ich-Erzähler bestimmt nicht absichtlich selbst als unsympathisch charakterisiert. Schuld an seinem Unglück sind grundsätzlich andere, und dass man als Leser daran zweifelt, hat Aramburu bestimmt so angelegt. Kein Wunder, ist er doch aufgewachsen in einer Familie, in der die Mutter ihrem Ehegatten im wahrsten Sinne des Wortes in die Suppe spuckt, während dieser im Suff die Innung blamiert. Auch die zwei Brüder sind sich nicht grün, schmerzhafte Reminiszenzen an ein quälendes Eheleben, die Verachtung des vermeintlich zurückgebliebenen Sohnes und die Mühen seines Lehrerberufs vervollständigen das Bild.

Sympathieträger sind allenfalls der Hund Pepa und Àgueda, die werden nach Strich und Faden benutzt wie auch die Sexpuppe Tina. Einen roten Faden bilden die Mauersegler, an sich ein schönes Symbol, aber auch nicht weiter ausgeführt, und die anonymen Briefe. Viel Abstoßendes wird einem zugemutet: diverse Hautkrankheiten und merkwürdige Sexualpraktiken. Die sparsamen Einwürfe schwarzen Humors sind nicht so richtig zum Lachen. Am meisten interessiert hat mich noch der literarisch-philosophische Zettelkasten, der von einem Fundus ausgeprägter Bildung zeugt.

Was will uns dieser Roman sagen? Ich denke, er gibt gut nachvollziehbar Einblick in die Geistesverfassung eines Depressiven, vielleicht können Psychiater ihre Schlüsse daraus ziehen. Ich werde jedenfalls nicht richtig schlau daraus, habe eher noch Bedenken, dass gefährdete Konsumenten noch bestätigt werden auf ihrem Weg die Rolltreppe abwärts.