Ergüsse eines männlichen, weißen Misanthropen

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missmarie Avatar

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"Ich würde mich nicht als Misanthropen bezeichnen, obwohl mehr als ein Kollege das glauben wird. Ich bin einfach müde. Sehr müde. Mich ermüden viele Dinge, vor allem der tägliche Kontakt mit Menschen, die mich nicht interessieren."

Wohlwollend mag man diese Haltung des Protagonisten Toni als satirischer Abgesang auf die Oberflächlichkeit der Gesellschaft lesen. Für mich wirkt Antiheld Toni aber definitiv wie ein Menschenhasser. Das ist auch - wenn man es unterbricht - der Grund, warum der 55-Jährige beschließt, sich umzubringen. Allerdings noch nicht sofort, sondern erst in genau einem Jahr. Bis dahin führt er eine Art Tagebuch, Tag für Tag ein Kapitel bis zum festgelegten Tag im Frühsommer. Einige dieser Kapitel nehmen direkt aufeinander Bezug und führen sich gegenseitig weiter. Andere sind Gedankensprünge oder kurze Anekdoten. Manchmal braucht Toni zehn oder mehr Kapitel bis er einen Faden wieder aufnimmt und der Leser muss erst einmal versuchen, den Handlungsstrang zu erinnern. In diesen Tagebucheinträgen berichtet Toni nämlich nicht nur von Drohbriefen in seinem Briefkasten und seinen tristen Alltag mit Hündin Pepa und Freund Humpel. Es geht auch um seinen Sohn, die demenzkranke Mutter, die gescheiterte Ehe, die Arbeit als Philosophielehrer. Dabei reist der Protagonist bis in seine Kindheit - und springt wirr durch die Zeiten hin und her.

Die Zeitsprünge wären vielleicht weniger schlimm, wenn Toni nicht so eine furchtbar unsympathische Figur wäre. In der Literatur gibt es eine Vielzahl sympathischer Antihelden, Toni zählt aber sicherlich nicht dazu. Zum einen störte mich beim Lesen seine Verantwortungslosigkeit enorm. Denn Schuld sind immer die anderen. Das Scheitern seiner Ehe? Liegt darin begründet, dass seine Frau nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Der minderbemittelte Sohn? Wurde zu sehr von den Großeltern verhätschelt. Die Unlust, als Lehrer zu arbeiten? Liegt an den dummen Schülern und den geschwätzigen Kollegen. Nicht für eine einzige Sache ist Toni bereit, in vollem Umfang die Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht nur moralisch schwierig, sondern führt auch zu einem recht monotonen Erzählmuster.

Zum anderen ist Toni genau das, was ich als alten weißen Mann bezeichnen würde. Diesen Stereotyp kultiviert er geradezu ausschweifend. Frauen sind gefühlsgesteuerte Furien. Angst ist ihr Hauptmotivator und daher müssen sie sich zwingend einen männlichen Begleiter suchen. Die Schülerinnen, die Toni unterrichtet, sind auf ihre sexuelle Anziehung reduziert. Nicht mal einzelne Namen werden verwendet, stattdessen sieht sich Toni stets einer Masse aus Hot Pans, Unterwäscheblitzern und vollen Lippen ausgesetzt. Dann gibt es noch die alten Frauen - Mütter und Schwiegermütter - die entweder nicht mehr zurechnungsfähig sind oder das Klischee des Hausdrachen erfüllen. Ein wenig positiver kommen da die Prostituierten weg - denn die haben keine eigenen Handlungsmotive abgesehen vom Geld, das sie verdienen. Hinzu kommen sehr vulgäre Textstellen. Dauernd geht es um Geschlechtsteile und -verkehr. Auch hier dominiert der männliche Blick, die männliche Lust, die es zu befriedigen gibt.

Mir ist es unerklärlich, wie in Verlag heute ein Werk mit so viel misogynen Tendenzen überhaupt veröffentlichen kann - selbst wenn sie zur literarischen Ausgestaltung der Hauptfigur gehören.

Wie anfangs schon erwähnt, finden sich sicherlich auch viele satirische Anspielungen im Text. Auch die philosophischen Betrachtungen, die es stellenweise gibt, insbesondere mit Bezug auf den Nihilismus, sind intellektuell anspruchsvoll und interessant. Auch möchte ich dem Autor nicht absprechen, ein sehr feiner Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen zu sein. Die Haltung, mit der er seine Hauptfigur berichten lässt, ist meiner Meinung nach aber vollkommen unangemessen. Diesen Gedankengängen möchte ich als weibliche Leserin nicht folgen.