Psychogramm eines lebensmüden Antihelden

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Toni ist ein Antiheld, wie er im Buche steht. Er ist des Lebens überdrüssig, hat resigniert, auch weil er wohl nie so Glück gespürt hat, wie ich es kenne. Er beschließt im Juli, in 365 Tagen Suizid zu begehen und notiert bis dahin an jedem Tag seine Erinnerungen, Erlebnisse des Tages oder Gedanken.
Dass Toni an diesen Punkt in seinem Leben kommt, wundert mich als Leserin nicht. Echte Emotionen, vor allem positive, sind bei ihm nicht erkennbar. Er fühlt dumpf, unter einem Schleier von Pragmatismus und Distanz, Kälte und Verrohung. Seine Tagebuchepisoden sind zum Teil schwer zu ertragen, derbe emotionslose Gedanken. Insbesondere Sexualität wird gegenständlich, objektiv und kalkulativ beschrieben. Davon sind sowohl seine Exfrau Amalia als auch seine Sexpuppe Tina betroffen. Toni hasst alles; er schreibt im Oktober, er hasse voll Lust. Und zwar jeden, allen voran seine Exfrau Amalia, seinen Bruder Raúl, seinen Job als Philosophielehrer, seinen - aus seiner Sicht minderbemittelten - Sohn Nikita, seine Eltern und Schwiegereltern. Ausdruck findet dies in seinen Schilderungen immer wieder, bspw. wenn er sich erinnert, sein erster Gedanke, als seine Mutter ihm seinen kleinen Bruder, ein Baby, auf den Arm gab, war ihn fallen zu lassen. Über seinen Sohn schreibt er im November noch, „Man hätte aus Eis und Stein sein müssen, um dich nicht zu hassen.“ Toni bekommt Erektionen, wenn er mit seiner Exfrau streitet. Und hätte Toni eine Partei, so schreibt er, wäre wohl ihr Motto „Lasst mich in Ruhe.“ Allein seine Hündin Pepa und sein einziger Kumpel, den er heimlich Humpel nennt, schaffen einen beschränkten Zugang zu Toni. Über viele, viele Seiten zieht sich die melancholisch machende, langatmige Schreibe, seine schmerzhaften Gedanken und der Einblick in die Lesart einer abgestumpften, lebensmüden Abrechnung mit dem selbst verursacht trostlosen Leben. Die Redundanzen empfand ich zum Teil hindernd beim Durchhalten der mehr als 800 Seiten, auch weil sie das beim Lesen erzeugte Gefühl der Düsterkeit verstärkten. Und dann, ganz heimlich still und leise schleicht sich Empathie für Toni durch die Zeilen. Zarte Pflänzchen des Verständnisses keimen bei den nicht chronologischen, wild gemusterten Schilderungen aus Vergangenheit und Gegenwart. Es entsteht ein Psychogramm einer armseligen Existenz, die mir am Ende doch ein Stück weit ans Herz gewachsen ist, obwohl mir kaum eine Denke ferner liegt als die von Toni. Und so fieberte ich dem Ausgang des einen Jahres entgegen, der für mich in vielen Gestalten Sinn ergeben hätte und dann doch überraschte.
Das Buch erfordert beim Lesen eine gewisse emotionale Stabilität und viel Aufmerksamkeit. Die 365 episodischen Kapitel sind zwar chronologisch notiert, bauen aber inhaltlich nicht aufeinander auf. Zuweilen dauert es Momente, ehe die einzelnen Episoden im lesenden Kopf ein Bild des Lebensabschnittes von Toni ergeben. Wer das hinzunehmen bereit ist, findet in „Die Mauersegler“ eine zwar schwere, aber lohnenswerte Lektüre.