Die Grausamkeit der 60er Jahre

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Wie geschickt Colson Whitehead die Rassismus-Situation zur Sklavenzeit aber auch in den 60er Jahren in den Vereinigten Staaten in Form von Romanen verpackt ist jedes Mal beeindruckend. Mit „Underground Railroad“, einem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten – und ansonsten wirklich ausgezeichnetem – Buch hat er sich in die Geschichtsbücher der aktuellen Belletristik geschrieben. Selbst wenn man seinen neuen Roman „Die Nickel Boys“ nicht mit dem vorherigen Roman vergleicht, steht er ihm meiner Meinung nach in einigen Punkten nach und konnte mich weder in seinen Bann ziehen noch ein einzigartiges Leseerlebnis vermitteln. Woran liegt das?

Der Autor behandelt ein wahres Thema, welches eine „Besserungsanstalt“ in den USA beleuchtet, in die der Protagonist Elwood gerät, nachdem er zur falschen Zeit am falschen Ort – einem gestohlenen Wagen – von einer Polizeistreife entdeckt wird. Darauf folgt eine lange Zeit in der Nickel Academy, die für mich nicht greifbar war. Die Schilderungen Elwoods schienen entfernt, als sei es eine andere Welt, die vor meinem geistigen Auge keine Form annahm. Es gab Momente, in denen man als Leser geschockt ist, die man nicht zu glauben vermag und dann passiert eine Weile erst einmal nichts Verstörendes, Ungewöhnliches.

Allen voran fehlte mir der emotionale Bezug zu Elwood, auf den sich Whiteheads Geschichte nicht stark genug konzentriert. Eine klare Hauptfigur ist hier zwar vorhanden, wird jedoch häufig von zahlreichen Nebencharakteren überschattet, denen deutliche Charaktertiefe fehlte. Die letzten Seiten des Romans hätten mich beinahe umgestimmt, dazu waren sie doch zu wenig. 50 zusätzliche Seiten hätten dem Buch meiner Meinung keinen Abbruch getan.

Dem Schreibstil kann ich nichts Schlechtes anhängen, aber auch nicht in den Himmel loben. Flüssig zu lesende Sätze, die Brutalität wird mehr deutlich, vermehrt sogar zwischen den Zeilen und trotz der geringen Seitenanzahl braucht man doch eine Weile, um das Buch und die Thematik lesen zu können und zu verdauen.

Große Achtung vor Colson Whitehead, der zum wiederholten Male ein sensibles Thema aufschnappt und es in einen Roman wandelt, der die Massen begeistern kann und Bestsellerpotenzial hat. Mich hat das Buch an sich nicht begeistern können, aber einige Fragen auf den Weg gegeben, die es wert sind zu bedenken und somit seine eigene Meinung zu reflektieren.