Habe mehr erwartet

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libby196 Avatar

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Wir befinden uns in Berlin, kurz nach dem 1. Weltkrieg. Regine arbeitet als Briefträgerin bei der Reichspost, ist aber "nur" eine Kriegsaushilfe, die arbeiten musste, weil sämtliche Männer an der Front waren. Nun, wo alle (die überlebt haben) nach und nach zurückkehren und die Jobs wieder übernehmen, sollen die Aushilfen gekündigt werden. Für viele sind die Jobs aber mittlerweile überlebenswichtig, teilweise ernähren die Frauen ihre Familien alleine. Daher wollen die Frauen nun streiken, um ihre Jobs zu behalten oder zumindest eine Abfindung zu bekommen.

Dieses Setting fand ich zunächst einmal sehr spannend. Leider konnte mich die Erzählweise dann aber nicht wirklich packen. Es wird in allwissender Sicht abwechselnd aus der Perspektive verschiedener Frauen geschrieben. Zum einen die titelgebende Regine, die eben als Postbotin arbeitet und deren Vater selbst früher niedriger Beamter bei der Post war (für ihn scheint die Behörde das Nonplusultra zu sein). Zum anderen Evi (warum mit 'i', habe ich mich die ganze Zeit gefragt, eigentlich heißt sie Eva-Maria und ist eine erwachsene Frau), die als Vermittlerin für Telefongespräche im selben Postamt arbeitet. Außerdem kommen verschiedene andere Frauen und ihre Probleme vor, bspw. Lotte, Gretchen (die sich gerade Evis Ex geangelt hat), Evis Mutter Bernardine, Emma - eine Kraftfahrerin, etc.

Leider fand ich auch keine der Protagomistinnen sonderlich sympathisch. Die Handlung entwickelt sich schleppend, es passiert eigentlich im gesamten Buch wenig wirklich relevantes. Regine lernt durch Lotte einen Gewerkschafter kennen, der ihr beim Streik helfen will. Sie betont ständig, wie wenig Ahnung sie von alldem hat und dass sie sich mit nichts auskennt - das hat mich richtig genervt. Generell verhalten sich alle Frauen irgendwie sehr naiv und kindlich. Aber so richtig voran geht es mit dem Streik nicht, es wird nie wirklich etwas organisiert, schlecht geplante Treffen der Frauen schlagen fehl, es wird nur rumgestanden und geredet, ohne dass etwas dabei herumkommt.

Außerdem werden zu viele Nebenschauplätze aufgemacht (bspw. Bernardine und der Mantel, Regines "Verehrer" der Bäcker, ...). Evi ist die ganze Zeit auf der Suche nach ihrem Bruder, der im Krieg war und dessen Verbleib unbekennt ist, und ihrem Vater, der sich einfach nicht um die Familie kümmert.

Die letzten 150 Seiten habe ich nur noch überflogen, es passieren nur Dinge, die meiner Meinung nach unzusammenhängend nacheinander erzählt werden, es gibt aber keine Verbindung, die im Rahmen der Geschichte Sinn ergibt.

Natürlich habe auch ich nicht in der damaligen Zeit gelebt, zum Glück auch nie einen Krieg erlebt, aber es fiel mir sehr schwer, mich anhand der Schreibweise auch nur halbwegs in die Situation der Frauen hineinzuversetzen. Auch die Gespräche untereinander wirkten oft sehr sperrig und unnatürlich, gingen viel zu lang, ohne dass der Inhalt interessant war oder die Stoty vorangebracht hat. Regine beispielsweise sieht Kurt schätzungsweise drei Mal, meistens geraten sie irgendwie aneinander, und trotzdem verliebt sie sich in ihn, was sie ihm natürlich auch prompt sagen muss? Begriffe wie "Koloss" finde ich auch nicht besonders schmeichelhaft, häufig habe ich mich an unterschiedlichen Formulierungen gestört. Die Entwicklung dieser "Liebesbeziehung" konnte ich absolut gar nicht nachvollziehen, Gefühle kamen überhaupt nicht auf.

Gut gelungen ist allerdings die Wut, die man die ganze Zeit beim Lesen verspürt, weil die Zeiten damals einfach ungerecht und frauenfeindlich waren. Die Frauen werden bloß als Platzhalterinnen angesehen, bis die Männer zurükommen um ihre Plätze einzunehmen und "die Familien zu ernähren", was die Frauen auch geschafft haben. Außerdem haben sie nur die Hälfte des Lohns bei gleicher Arbeit bekommen - diese Problematik des Gender Pay Gaps ist ja selbst heute noch nicht ganz gelöst.

Die Thematik des Streiks von der ich dachte, dass es die Hauptproblematik sein würde, ist am Ende irgendwie nicht wirklich wichtig und wird nicht weiter verfolgt. Die einzelnen Schicksale plätschern so dahin, aber ohne wirklichen roten Faden oder Inhalt. Viele Erzählstränge laufen am Ende ins Leere, die Frauen haben nicht wirklich aktiv gekämpft oder gestreikt - ich muss sagen, dass ich mehr erwartet habe.