Ein psychologisches Verwirrspiel

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marieon Avatar

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Er hatte sie in ein Restaurant eingeladen. Als sie davorstand und ihn durch die Fensterscheibe beobachtete, wollte sie schon einen Rückzieher machen. Er war jung, saß an einem Tisch zwischen Küche und Toilette gefangen, um ihn herum hektisches Treiben. Sie trat ein und ging auf den Empfangskellner zu. Sie wurde zu seinem Tisch geführt. Er stand auf, lächelte charmant und charismatisch. Sie fühlte sich unsicher, mochte schnell etwas zu essen bestellen und einen Drink. Es war nach Mittag, was sprach dagegen? Sie ließ den Blick schweifen, erhaschte das Augenpaar eines älteren Mannes, der sie – leicht verächtlich? – musterte. Hinter dem Blick, dem sie nun verärgert begegnete, sah sie kaum zu glauben, Thomas, den Mann, mit dem sie seit vielen Jahren glücklich verheiratet war. Er folgte dem Empfangskellner, blieb unvermittelt stehen, tastete seine Jackentaschen ab, wirkte verwirrt. Gerade als sie ihm winkte und er sie eigentlich hätte wahrnehmen müssen, drehte er sich um und verließ das Lokal. Sie hatte ihm nichts von diesem Treffen erzählt. Warum eigentlich nicht? Schließlich war er der jenige, dem sie am meisten vertraute. Wir werden uns nicht wiedersehen, sagte sie, als sie zu Xavier zurückschaute. Er zuckte zusammen.

Vor Thomas hatte sie den Drang, den Menschen, von Neugier geprägt, allzu offen zu begegnen und überließ sich der Obsession, sie zu beobachten. Dieses Aufflackern einer alten Gewohnheit war der Grund, warum sie sich überhaupt mit Xavier getroffen hatte, eine Form des Voyeurismus.

Sie lief durch Nieselregen, musste nachdenken. Zuhause angekommen fand sie ihre Wohnung verweist. Es war 19 Uhr, aber Thomas war noch nicht da. Dass sie ihn in dem Restaurant gesehen hatte, in einer Gegend, in der er sonst nicht verkehrte, zu einer Uhrzeit, an der er normalerweise schrieb, verwirrte sie. Als sie den Schlüssel im Schloss hörte, war sie angespannt. Thomas verhielt sich wie immer. Vielleicht blickte er ihr tiefer in die Augen, vielleicht bildete sie sich das ein. Doch als er sie fragte, ob sie ihn wieder betrüge, wusste sie, dass er sie mit Xavier gesehen hatte.

Fazit: Katie Kitamura stand in diesem Jahr mit dieser Geschichte auf der Longlist des Booker Prizes. Sie erzählt aus der Sicht ihrer Protagonistin und Schauspielerin. Im Theater begegnet ihr ein attraktiver junger Mann, der sie umgarnt. Sie fühlt sich geschmeichelt und spielt das Spiel bis zu einem gewissen Grad mit. Doch dann erfährt sie, dass er glaubt, ihr Sohn zu sein, was unmöglich sein kann. Dennoch kommt es zu einer Art Freundschaft zwischen den beiden. Sie ist durch eine große Rolle berühmt geworden und hat Erfolge gefeiert, ihr Mann ist ein Schriftsteller mit geringem Einkommen. Durch die Begegnung mit Xavier gerät die geglaubte Sicherheit ihrer Ehe ins Wanken. Ich mag die Stimme der Autorin sehr. Der ruhige Schreibstil und die grandiose Beobachtungsgabe. Die Autorin ist mir schon mit ihrem Buch Intimitäten begegnet, das ich gefeiert habe. In dieser Geschichte bin ich ab einem Punkt nicht mehr mitgekommen, deshalb kann ich nur mehr schlecht als recht interpretieren. Zwischen den Eheleuten herrscht ein Ungleichgewicht, sie ist erfolgreich, er nicht, das nagt an seinem Selbstwert. Deshalb verändert er sich im Laufe der Geschichte von selbstbewusst, über devot, bis er Erniedrigungen augenscheinlich genießt. Sie hatten einen Kinderwunsch, der sich nicht erfüllt hat und plötzlich steht der verlorene Sohn vor ihnen und die Vorstellung wird nach einer ersten Abwehrhaltung so reizvoll, dass ihre gesamte Lebensplanung auf eine harte Probe gestellt wird. Eine total verrückte psychologische Darbietung für alle, die Verwirrspiele lieben.